Über den Stellenwert des Wortes Gottes im Gottesdienst
Mit dem ersten Adventssonntag hielt die revidierte Einheitsübersetzung in den Gottesdienst Einzug. Zumindest an den Sonn- und Festtagen des nun begonnenen Lesejahres kann man die Schrifttexte in einer überarbeiteten Textfassung hören. Es mag für manchen Gottesdienstbesucher durchaus irritierend sein, wenn Altbekanntes plötzlich neu formuliert ist. Doch die Einführung des Lektionars sollte nicht nur als bloße Verwendung eines neuen Buches für die gottesdienstliche Praxis betrachtet werden. Vielmehr bietet sie sich an, sich neu mit dem Thema Schriftlesung auseinanderzusetzen und die Gemeinde wieder für das Hören auf das Gotteswort zu sensibilisieren.
Beides jedenfalls ist dringend nötig, wenn man betrachtet, welch leichtfertiger Umgang mancherorts mit dem Wortgottesdienst gepflegt wird. Dass Schriftlesungen gerade bei der Feier von Kasualien gerne durch zeitgenössische literarische Texte ersetzt werden, scheint in manchen Gemeinden Gang und Gäbe zu sein. Und dass an den Sonn- und Festtagen in vielen Pfarreien mittlerweile ganz selbstverständlich nur eine Lesung vorgetragen wird, ist auch keine große Neuentdeckung. Dabei werden der versammelten Gottesdienstgemeinde häufig nicht nur die zweite Schriftlesung, sondern auch der Psalm vorenthalten. Freilich muss man eingestehen: Die liturgischen Normen bieten den Handlungsspielraum, aus "pastoralen Gründen" die Zahl der Schriftlesungen zu reduzieren. Und es kann tatsächlich Situationen geben, in denen dies nötig und sinnvoll ist. Aber manchmal hat es doch den Anschein, dass diese "pastoralen Gründe" generalisiert werden und grundsätzlich für jede Gottesdienstgemeinde und für jeden Sonntag gelten.
Hieronymus' Warnung
Hier ist es angeraten, sich auf den Wert des Wortgottesdienstes innerhalb der Eucharistiefeier zu besinnen. Die Schriftlesungen sind ja nicht dazu da, um den Gottesdienst in die Länge zu ziehen. Vielmehr sind sie ein "höchst bedeutsames Element der Liturgie", wie es in der Grundordnung des Römischen Messbuchs heißt. In ihnen ist Christus ebenso gegenwärtig, wie er in den Gestalten von Brot und Wein in der Mitte der versammelten Gläubigen gegenwärtig ist. Deshalb ist der Wortgottesdienst ein überaus wertvolles Element innerhalb des christlichen Gottesdienstes. Eine Kürzung der Schriftlesungen gerade am Sonntag und an den Festen widerspricht eigentlich der Hochschätzung der Heiligen Schrift, wie sie auch die Konzilsväter des Zweiten Vaticanums einfordern.
Die Analogie zwischen dem Wortgottesdienst und der Eucharistiefeier hat der heilige Hieronymus (347-420) prägnant auf den Punkt gebracht. Bei ihm heißt es: "Wenn wir uns der Eucharistie nähern und ein kleines Stückchen davon fällt auf den Boden, meinen wir, wir seien verloren. Wenn wir beim Hören des Wortes Gottes, während das Wort Gottes – das Fleisch Christi und sein Blut – uns in die Ohren geträufelt wird, an etwas anderes denken, in welch große Gefahr geraten wir da?"
Freilich ist es nicht damit getan, einfach mehr Lesungen aus der Heiligen Schrift vorzutragen. Es braucht auch die Hinführung der versammelten Gemeinde zu den gehörten Texten und eine Neubesinnung darauf, warum wir überhaupt im Gottesdienst die Lesungen aus der Schrift hören. Manche Schriftlesungen sind schwierig und können die Hörer leicht überfordern. Gerade wenn eine Kontextualisierung der vorgetragenen Texte fehlt, ist es oft schwer, das Gehörte auch nachzuvollziehen.
Besonders die sogenannte "Bahnlesung" an den Wochentagen bringt hier große Schwierigkeiten mit sich: Wo es in Gemeinden keine tägliche Eucharistiefeier gibt, ist es den Gläubigen auch nicht möglich, ein biblisches Buch am Stück zu hören. Dann werden immer nur bruchstückhaft Texte gelesen, denen aber der Anschluss zum vorgehenden und zum nachfolgenden Geschehen fehlt. Gerade wenn diese Schriftexte aufeinander aufbauen und erst im großen Ganzen eine sinnvolle Erzählung bilden, hinterlassen die Lesungen bei den Hörern oft Fragen und Unsicherheiten. Eine Einführung in den Lesungstext, bei dem gleichzeitig eine Kontextualisierung vorgenommen wird, ist in diesem Fall unumgänglich. Nur so ist es möglich, das Gehörte auch innerlich nachzuvollziehen und in den Gesamtzusammenhang einzuordnen.
Weihrauch auch bei Lesungen
Man könnte den Gedanken der Bahnlesung auch dergestalt anpassen: Jede Gemeinde wählt am Anfang des Kirchenjahres selbst ein biblisches Buch aus, dem die Lesungstexte an den Wochentagen entnommen werden. Am Beginn der Zeit im Jahreskreis kann eine Einführung in die Theologie und Eigenart des Buches erfolgen. Auf diese Weise könnte der Gemeinde das Hören erleichtert werden und zugleich eine Katechese im biblischen Bereich erfolgen. Für die jeweilige Ortsgemeinde wäre somit die Idee der Bahnlesung am Wochentag auf eine ansprechende Weise verwirklicht.
Den hohen Stellenwert des Wortgottesdienstes innerhalb der Eucharistiefeier kann man auch sichtbar verdeutlichen. Der emeritierte Regensburger Pastoraltheologe Heinz-Günther Schöttler hat jüngst vorgeschlagen, Leuchter und Weihrauch nicht nur zum Evangelium, sondern für den gesamten Wortgottesdienst zu verwenden. Damit freilich würde sich das Evangelium als "Höhepunkt der Liturgie des Wortes" (GORM 60), in dem Christus selbst zu seinem Volk spricht, nicht mehr von den anderen Schriftlesungen durch begleitende Riten abheben.
Aber es würde augenfällig zum Ausdruck kommen, dass der Wortgottesdienst eine Einheit bildet, zu dem sowohl die Schriftlesungen als auch die Evangeliumsverkündigung gehören. Die Verehrung des Ambo als "Altar des Wortes" könnte durch solche Riten noch deutlicher hervorgehoben werden. Auch die feierliche Prozession, die normalerweise erst mit dem Evangeliar erfolgt, müsste dann bereits zur ersten Lesung vollzogen werden. Dadurch würde man ganz offen zeigen, welch hohen Stellenwert die gesamte Wortverkündigung mit Lesungen, Psalm und Evangelium in der Eucharistiefeier besitzt.
Das Hören auf das Wort Gottes fördern
Es mag "pastorale Gründe" geben, anstelle von insgesamt vier Schriftlesungen am Sonntag gerade einmal die Hälfte zu verwenden. Aber vielleicht stehen die "Zeichen der Zeit" momentan ganz anders. Aufgrund einer allgemein spürbaren schwindenden Religiosität müsste es doch notwendig sein, nicht zu kürzen, sondern die Gläubigen bewusst am Schatz der biblischen Schriften teilhaben zu lassen (vgl. SC 51). Der Glaube, so zeigt es zumindest schon der Apostel Paulus, kommt schließlich vom Hören. Und ich meine, dass es heute durchaus berechtigte pastorale Gründe gibt, das Hören auf das Wort Gottes nicht immer mehr einzuschränken, sondern mit allen verfügbaren Mitteln zu fördern.
Rubrik: Unsere Bibel
Im Grunde ist schnell erklärt, was die Bibel ist: Die anerkannten Schriften von der Erschaffung der Welt bis zur Entstehung der ersten christlichen Gemeinden. Allerdings greift die Erklärung zu kurz.Gerade durch die Rückbesinnung auf die heilsgeschichtlichen Ereignisse, die in den Schriftlesungen verkündet werden, kann sich das christliche Leben im Blick auf den rettenden Schöpfergott erneuern. Wenn in der Gesellschaft die Rede von Gott schon immer mehr verstummt, dann darf sich die christliche Gemeinde diesem Trend nicht anschließen. Angesichts der momentanen Situation scheint es dringend angebracht, die Verkündigung des Gotteswortes nicht immer mehr zu reduzieren, sondern die Bedeutung der Heiligen Schrift für das eigene Leben und den eigenen Glauben wieder zu entdecken.
Die Einführung des neuen Lektionars bietet einen günstigen Punkt, um neu über den Stellenwert der Heiligen Schrift im gottesdienstlichen Geschehen nachzudenken. Schließlich ist die Wortverkündigung kein willkürliches Anhängsel, sondern konstitutives Element unserer Eucharistiefeiern. Es bleibt die Frage, ob man an den beiden Brennpunkten Wort und Eucharistie aufgrund manchmal sehr fadenscheiniger Begründungen nach Lust und Laune kürzen darf. Der Umfang des Wortgottesdienstes dürfte eigentlich nicht allein die Entscheidung des vorstehenden Zelebranten sein, der die Feier nach seinen Vorstellungen gestaltet.
Hier müsste aufgrund seiner aktiven Teilnahme am gottesdienstlichen Geschehen auch das versammelte Gottesvolk mit einbezogen werden. Denn schließlich haben die Gläubigen, die in der Taufe zum gemeinsamen Priestertum geweiht wurden (vgl. LG 10), vielleicht sogar das Recht darauf, am Sonn- und Feiertag die Eucharistie in ihrer Vollform feiern zu dürfen. Und diese Vollform betrifft längst nicht nur den Wortgottesdienst.