Wilmer: Machtmissbrauch steckt in DNA der Kirche
Der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer geht nach dem Missbrauchsskandal hart mit den Strukturen der Kirche ins Gericht und fordert einen radikalen Wandel. "Ich glaube, der Missbrauch von Macht steckt in der DNA der Kirche", sagte Wilmer am Freitag im Interview mit dem "Kölner Stadt-Anzeiger". Man könne das nicht mehr als peripher abtun, sondern müsse radikal umdenken. "Bisher aber fehlt es uns an jeglicher Idee, welche Konsequenzen das für die Theologie haben muss."
Der Glauben an die "heilige Kirche" könne in Zukunft nur noch dann redlich bekannt werden, wenn man mitbekenne, dass diese Kirche "auch eine sündige Kirche" sei, führt der Bischof aus. Bisher hieß es, in der Kirche gebe es die Einzelnen als Sünder. Aber die Kirche an sich sei rein und makellos. "Davon müssen wir uns verabschieden." Denn es gebe auch "Strukturen des Bösen" in der Kirche als Gemeinschaft. Um das Böse in der Kirche einzudämmen, bräuchte es eine wirksame Kontrolle der Macht in der Kirche. "Wir brauchen Gewaltenteilung."
Bischöfe brauchen "Propheten", die ihnen auf die Füße treten
Wilmer berief sich bei seinen Aussagen unter anderem auf Eugen Drewermann. Dessen dreiteiliges Werk "Strukturen des Bösen" sei aus heutiger Sicht ebenso prophetisch gewesen wie sein Buch "Kleriker. Psychogramm eines Ideals". Wilmer sagte wörtlich: "Eugen Drewermann ist ein von der Kirche verkannter Prophet unserer Zeit." Der Theologe Drewermann hatte unter anderem aufgrund seiner Bibelexegese Anfang der 1990er Jahre zunächst seine Lehrerlaubnis verloren und wurde dann als Priester suspendiert. 2005 trat er schließlich aus der katholischen Kirche aus.
In diesem Zusammenhang nannte Wilmer auch den Jesuiten Klaus Mertes. "Propheten waren schon in der Bibel Menschen, die ungeschminkt die Wahrheit sagten – und dafür ins Abseits gedrängt oder gar mundtot gemacht wurden", so der Bischof. Auch heute bräuchte man solche Männer und Frauen, "die uns Bischöfen auf die Füße treten, und mag das noch so wehtun". Mertes habe für den von ihm öffentlich gemachten Missbrauchsskandal viel Prügel bezogen. "Zu Unrecht!"
Auch sich selbst und seine Amtsbrüder nimmt der Hildesheimer Bischof in dem Interview in die Pflicht. "Alle Selbstherrlichkeit, alles Anspruchsdenken muss fallen." Die Bischöfe säßen immer noch zu sehr auf dem hohen Ross. "Ich denke bisweilen: Wer bestimmt eigentlich, was katholisch ist?" Man tue immer noch so, als würde die Hierarchie das Katholische ausmachen und nur Bischöfe hätten das Recht auf dieses Label. "Falsch! Wir sind nicht die katholische Stiftung Warentest", so Wilmer. Sie selbst müssten Empfänger sein.
Unverständnis über Kardinal Müller
Unverständnis zeigte Wilmer daher auch für die jüngsten Äußerungen von Kardinal Gerhard Ludwig Müller. Wenn er höre, Laien könnten nach der heiligen Ordnung der Kirche nicht über geweihte Amtsträger urteilen, dann könne er nur sagen: "Das stimmt so nicht." So seien etwa in den ersten Jahrhunderten immer wieder Diakone und Priester vom Volk per Akklamation zum Bischof gewählt worden. Es habe in der Kirche weitaus mehr Formen der Partizipation gegeben, als wir heute praktizieren, sagte der Bischof. "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht Opfer eigener Geschichtsvergessenheit werden."
Heiner Wilmer ist seit Anfang September Bischof von Hildesheim. Bereits vor seiner Weihe hatte er eine schonungslose Aufarbeitung des Missbrauchs angekündigt. Dabei will er unter anderem auf unabhängige Kontrolleure setzen. Wilmer war zudem einer der ersten deutschen Oberhirten, der offen die Verfehlungen seiner Vorgänger beim Thema Missbrauch eingestanden hatte. Der damalige Bischof Josef Homeyer (1983 bis 2004) habe mit seiner Bistumsleitung nicht nur versagt, sondern "fürchterliche Dinge zugedeckt", so Wilmer damals. Darüber hinaus gab das Bistum unter der Leitung Wilmers Mitte November neue Missbrauchsvorwürfe gegen Bischof Heinrich Maria Janssen (1957 bis 1982) bekannt.
Belastete Vorgänger in Hildesheim
Der Fall des Missbrauchstäters Peter R. verschlage ihm "immer noch die Sprache, wenn ich daran denke, dass hier in Hildesheim zumindest seine letzten Verbrechen hätten verhindert werden können", sagte der Bischof nun im "Kölner Stadt-Anzeiger". Der zuständige Personalchef unter Bischof Homeyer habe R. offenbar aus dem priesterlichen Dienst entfernen wollen. "Aber am Ende haben sich wohl einige Gemeindemitglieder beim Bischof durchgesetzt."
Bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals gehe es in erster Linie um Wahrheit und Gerechtigkeit, so Wilmer weiter. Das Bemühen um die Rückgewinnung der Glaubwürdigkeit als Kirche oder um neues Vertrauen und Gehör sei dagegen "bestenfalls ein Kollateralnutzen". Deshalb werde er in der Forderung nicht nachlassen, "dass wir alles Geschehene aufdecken und aufklären, so gut wir können". Mit ihm werde es "kein klammheimliches Verschwindenlassen in irgendwelchen Schubladen geben". (bod)