Ein Blick ins Buch der Bücher zum Valentinstag

Wo es in der Bibel vor Erotik knistert

Veröffentlicht am 14.02.2021 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Enthaltsamkeit und Liebesrausch: Die Bibel kennt beides, denn Sexualität ist im Alten und Neuen Testament ein vieldiskutiertes Thema. Ein bestimmtes Buch feiert die körperliche Liebe sogar ganz ungeniert.

  • Teilen:

Unverheirateten empfiehlt der Apostel Paulus, so wie er, enthaltsam zu leben. Nur wenn sie diesem hohen Ideal nicht entsprechen können, sei es besser zu heiraten "anstatt (vor sexuellem Verlangen) zu brennen" (1 Korinther 7,9). Wenn die Begierde zu übermächtig sei, solle man sie in der Ehe kanalisieren. Dass Paulus' sexuelle Enthaltsamkeit kein Gebot Gottes, sondern seine eigene Meinung ist, die er niemandem aufzwingt, darf bei dieser Aussage nicht übersehen werden. Paulus' Ratschlag angesichts der von ihm erwarteten unmittelbaren Wiederkunft Christi ist nur eine von vielen Stimmen in der biblischen Auseinandersetzung darüber, welche Rolle Sexualität im Leben spielt.

Der Anfang der Bibel ist noch recht unromantisch. Die Menschen werden als Mann und Frau geschaffen und sie sollen ebenso wie die Tiere fruchtbar sein und sich vermehren (Genesis 1,28). Sexualität ist ein Gebot Gottes und hat einen klar definierten Zweck: Sie dient der Zeugung von Kindern. Wenige Zeilen später jedoch, wenn die Schöpfung der Welt ein zweites Mal erzählt wird, sieht die Welt anders aus. Damit der Mensch nicht alleine sei, schafft Gott aus ihm Mann und Frau. Die Schöpfung Gottes wäre nicht gut, wenn sie in Einsamkeit enden würde – und so jubelt der Mann über seine Frau: "Das endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch", und er fügt die Weltordnung erklärend hinzu: "Darum verlässt ein Mann Vater und Mutter und hängt seiner Frau an und sie werden ein Fleisch" (Genesis 2,23-24). Der einzelne Mensch ist erst wieder vollständig Mensch, wenn Mann und Frau sich vereinen, eins werden – und dabei geht es nicht vorrangig um die Zeugung von Kindern, sondern um das Verlangen des Mannes, das ihn zu seiner Frau hinzieht.

Weiblicher Widerspruch gegen das Gottesurteil

Nach dem sogenannten Sündenfall im Paradies ist die eigentlich von Gott gewollte sexuelle Ordnung jedoch vergangen. Dem Sündenfall folgt die vom Mann dominierte Weltordnung: Im Gotteswort wird das Patriarchat etabliert. Bevor Gott die Menschen aus dem Garten Eden verbannt, urteilt er über die Frau: "Nach deinem Mann hast du Verlangen und er wird über dich herrschen" (Genesis 3,16). Das Verhältnis der Geschlechter untereinander ist nicht mehr gleichberechtigt. Durch ihr sexuelles Verlangen ist die Frau dem Mann unterworfen. Der hebräische Begriff, der in den Worten Gottes auf Deutsch durch "Verlangen" wiedergegeben wird, ist תְּשׁוּקָה. Dieses Wort ist äußerst selten im hebräischen Alten Testament. Im Hohelied wird mit ihm der weibliche Widerspruch gegen das Gottesurteil ausgesprochen: "Ich gehöre meinem Geliebten und ihn verlangt es nach mir" (Hohelied 7,11). Der Widerstand gegen das Patriarchat ist ausgesprochen und die Rückkehr zum paradiesischen Zustand verkündet.

Die Statue des Heiligen Paulus auf dem Petersplatz im Vatikan.
Bild: ©User:AngMoKio/Creative Commons

Der heilige Paulus empfiehlt Enthaltsamkeit. Doch er ist nur eine von vielen Stimmen in der Bibel zur Sexualität.

Das Hohelied ist eine Sammlung von Liebesliedern, die voller Erotik ist. Die menschliche Liebe, besonders die Leidenschaft, das Verführen und der Geschlechtsverkehr werden darin gefeiert. Sex ist weder dreckig noch schmuddelig, sondern Inhalt des Lobpreises. Es ist das, was die Liebenden verbindet – und es ist das, was die Liebenden zu gleichberechtigten Partnern werden lässt: "Mein Geliebter ist mein und ich bin sein" (Hohelied 2,16; vgl. 6,3; 7,11). Im Verlangen zueinander sind Mann und Frau gleichberechtigt und in der Leidenschaft eröffnet sich gar ein Weg zurück zu der von Gott im Paradiesgarten gewollten Ordnung. Der einvernehmliche Geschlechtsverkehr zweier Liebenden wird als neues Paradies gefeiert.

Liebevoll redet der Mann im Hohelied seine Geliebte als "mein verschlossener Garten" an (Hohelied 4,12). Ebenso wie das Paradies ist sie ein eigentlich nicht-zugänglicher Ort. Doch sie öffnet sich für ihn und lädt ihn zu sich ein: "Mein Geliebter komme in seinen Garten und esse von seinen köstlichen Früchten" (Hohelied 4,16). Der beschriebene Garten ist voller exotischer Pflanzen, die für die Attraktivität und den Sex-Appeal der Frau stehen. Alle diese Verlockungen dienen der Befriedigung des Mannes, zu der die Frau ihn einlädt: "Ich komme in meinen Garten, meine Schwester Braut. Ich pflücke meine Myrrhe zusammen mit meinem Balsam. Ich esse meine Wabe samt meinem Honig. Ich trinke meinen Wein samt meiner Milch" (Hohelied 5,1). Mitten in der Bibel wird Geschlechtsverkehr ekstatisch in den schönsten Bildern beschrieben. Ja, der Rausch der Liebe wird nicht nur gefeiert, sondern zu ihm wird noch im selben Vers aufgefordert: "Esst, Freunde, trinkt, berauscht euch am Liebegenuss!"

Gott als betrogener Liebhaber

Im Hohelied gibt es zwei wichtige Wörter für "Liebe". Zum einen דּוֹד, das im Plural verwendet den Liebesgenuss bezeichnet. Zum anderen אַהֲבָה, das für die im Hohelied gepriesene Liebe steht. Das hebräische Denken unterscheidet nicht zwischen einer geistigen und einer körperlichen Form der Liebe. Der Mensch liebt mit Körper und Seele – und selbst die Liebe zu Gott wird mit demselben Wort ausgedrückt (Deuteronomium 6,5). Im Buch Hosea bezeichnet sich Gott gar selbst als betrogener Liebhaber, nachdem sich Israel zu anderen Göttern abgewendet hat (Hosea 2,7). Was wäre, wenn das Christentum den Geliebten im Hohelied mit Gott identifizieren, aber in der Lektüre die erotisch-sexuelle Ausrichtung dieser biblischen Sammlung von Liebesliedern nicht unterdrücken würde?

Egal, ob das Hohelied die geistige und körperliche Liebe zwischen zwei Menschen feiert oder auch den Begriff der Gottesliebe ganz neu entfaltet. Entscheidend ist: Mitten in der Bibel gibt es ein Buch, das im sexuellen Verlangen, in der Lust am Körper des Anderen, im Liebesrausch keine Sünde sieht, sondern die von Gott im Paradies gewollte Gleichberechtigung der Geschlechter ermöglicht. In der Geliebten oder dem Geliebten kann man das persönliche Paradies finden. Darin gibt es zwar keinen Lebensbaum wie im Garten Eden, aber die in der Sexualität sich ausdrückende Liebe, die die Liebenden zu "einem Fleisch" werden lässt, ist eine Leben ermöglichende Macht in der diesseitigen Welt: "Stark wie der Tod ist die Liebe und hart wie das Todesreich ist die Leidenschaft" (Hohelied 8,6). Wahre Liebe ohne Sexualität ist im Hohelied nicht denkbar. Bedenke, Mensch, dass du Staub bist und wieder zum Staub zurückkehrst – und vergiss daher nicht zu lieben mit deinem ganzen Herz und mit deinem ganzen Körper.

(Die Übersetzungen stammen von Till Magnus Steiner)

Von Till Magnus Steiner

Der Autor

Till Magnus Steiner ist katholischer Theologe. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Exegese des Alten Testaments. Er lebt und arbeitet in Jerusalem.

Der Artikel wurde am 14. Februar 2021 aktualisiert.