Standpunkt

Vorwürfe ernstzunehmen bedeutet auch Betroffene ernstzunehmen

Veröffentlicht am 27.05.2019 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Man nehme die Missbrauchsvorwürfe sehr ernst, heißt es heute von vielen Bistumsleitungen. Doch jahrzehntelang interessierte man sich nicht für die Opfer. Auch nicht für die, die sich damals schon meldeten. Pater Klaus Mertes sieht dafür mehrere Gründe.

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Die Vorwürfe gegen den Breslauer Kardinal Henry Gulbinowicz wegen sexuellen Missbrauchs eines Seminaristen treffen mitten in die Erschütterung der polnischen Gesellschaft hinein, die durch den Dokumentarfilm "Nur sag es niemandem" ausgelöst worden ist. Bemerkenswert an der neuen Nachricht ist unter anderem, dass Karol Chum, der den Vorwurf ausspricht, den Vorwurf bereits 1996 erhob, aber sich damals niemand dafür interessierte. Doch heute ist zu lesen: "Das Erzbistum Breslau nimmt den Vorwurf nach Angaben seines Sprechers ernst und prüft ihn." Das ist der gesamtgesellschaftliche und auch gesamtkirchliche Quantensprung, der sich gegenwärtig vollzieht, nicht nur in Polen: 1996 interessierte sich niemand für solche Vorwürfe, heute werden sie ernst genommen.

Vorwürfe ernst zu nehmen bedeutet konkret, Verfahren zu entwickeln, die den Betroffenen deutlich machen, dass ihre Vorwürfe ernst genommen werden. Hier steht bei der apostolischen Signatur im Vatikan offensichtlich noch einiges aus – das kann man jedenfalls mit Fug und Recht behaupten, wenn man die jüngste Nachrichtenlage in Sachen Doris Wagner (verh. Reisinger) verfolgt. Die ursprünglich vorgesehene Anhörung wurde abgesagt, die Aussage einer weiteren Betroffen lag dem vatikanischen Gericht vor, das Urteil wurde an die Presse durchgestochen.

An Vorwürfen "nicht interessiert" zu sein kann mehrere Ursachen haben: Vorwürfe sind lästig – ihnen nachzugehen kostet Zeit und Nerven. Vorwürfe überfordern – denn wenn man den Gedanken zulässt, dass sie stimmen, krachen Selbstbilder von Familien, Schulen, Pflegeinrichtungen, Gemeinden, Orden und anderen Institutionen zusammen. Vorwürfe rufen in die Verantwortung – sie stellen "mich" vor die Entscheidung, ob ich den Vorwürfen glaube oder nicht glaube. Das alles führt in komplexe Situationen, zumal unbestritten ist, dass bezichtigte Personen auch Rechte haben. Aber gerade weil das so ist, sind Verfahrenspräzision und Verfahrenstransparenz unverzichtbar, und ebenfalls die Unabhängigkeit der Gerichte.

23 Jahre Desinteresse an den Vorwürfen von Karol Chum – man stelle sich vor, was das für die betroffene Person bedeutete. Auch nach der Anzeige, die Doris Wagner 2012 erstattete, und nach der Veröffentlichung ihres Lebensberichtes ("Nicht mehr ich") im Jahre 2014 dauerte es mehrere Jahre, bis sich die Glaubenskongregation für den Bericht erkennbar interessierte – oder doch nur "interessierte" wegen des Öffentlichkeitsdrucks? Und übrigens: Der Bericht betrifft ja nicht „nur“ Vorwürfe sexualisierten Machtmissbrauchs, sondern auch andere Rechtsverletzungen, inklusive Verletzungen geltenden Kirchenrechts (Kontakt-Kontrolle und Kontaktverbote, Briefkontrolle, Arbeit ohne Freizeit, Vermischung von forum internum und forum externum, Zuteilung von Beichtvätern, Bruch des Beichtgeheimnisses, etc.). Wann ergeht das Signal an Betroffene, dass auch solche Vorwürfe ernst genommen werden? Oder sind etwa all diese Themen erledigt, wenn das Thema Sex - angeblich - abgeräumt ist?

Von Pater Klaus Mertes

Der Autor

Der Jesuit Klaus Mertes ist Direktor des katholischen Kolleg St. Blasien im Schwarzwald.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Redaktion von katholisch.de wider.