Gigantische Klangwelle in St. Gallen
Die Instrumente sind Kirchenglocken: Für die Komposition "Zusammenklang" sollen am Sonntag im schweizerischen St. Gallen die 118 Glocken aller 29 Kirchen und Kapellen ein gemeinsames Konzert geben. Drei Stücke wurden speziell dafür von der Komponistin Natalija Marchenkova Frei und dem Musiker Karl Schimke komponiert.
Zwei Musiker, eine Idee
Die Idee dazu hatten beide unabhängig voneinander. Natalija Marchenkova Frei, die in der Ukraine Komposition und Musikpädagogik studierte und in St. Gallen auch eine eigene Musikschule führt, trägt diesen Wunsch schon lange mit sich herum. "Ich habe etwa vor 14 Jahren zum ersten Mal die Glocken in St. Gallen läuten hören", erzählt Marchenkova Frei, "aber damals fehlte mir die Harmonie darin. Ich wollte etwas für sie komponieren." Der Klang der Kirchenglocken hat es auch dem gebürtigen Amerikaner und Tubaspieler Karl Schimke angetan. "Ich habe das erste Mal in Europa Glocken gehört, und immer wieder deren unterschiedliche Klänge wahrgenommen, wenn ich in Kirchen Konzerte gegeben habe."
Ein Pfarrer, dem auffiel, dass Schimke nicht alleine mit seiner Idee war, für St. Gallens Glocken komponieren zu wollen, brachte beide zusammen. "Das ist ein perfektes Match", meint Schimke. "Ich hatte etwas Bauchschmerzen, denn ich bin kein Komponist, und Natalija fand es gut, dass ich die Organisation übernehmen wollte." In der Tat kannten sich beide schon von einem Musikprojekt aus dem Vorjahr, bei dem sie zusammengearbeitet hatten.
Drei Stücke sollen am Sonntag aufgeführt werden, die am besten an einem "Hörort" genannten Punkt im Naherholungsgebiet "Drei Weieren" zu hören sind: Zunächst eines von Schimke als Einleitung. "Ich habe mich immer gefragt, wie es klingt, wenn eine Welle von Klang durch die Stadt geht", beschreibt er sein Stück. Dann folgt eine neoromantische Komposition von Marchenkova Frei. "Ich bin ein gläubiger Mensch, ich glaube, dass mich Gott dazu inspiriert hat", meint sie. "Ich habe aufgeschrieben, was mir in den Kopf kam." Zum Abschluss soll volles Geläut erklingen.
Mit ihrer Aktion wollen die beiden nicht nur die "versteckten Schönheiten und Jahrhunderte alten Kulturgüter" von St. Gallen ins Bewusstsein rufen, wie Schimke es ausdrückt. "Ich möchte mit meiner Komposition zeigen, dass wir, wenn wir uns zusammentun, etwas Größeres und Schönes entstehen lassen können", so Marchenkova Frei. "An unserem Projekt wirken die Kirchen in St. Gallen mit, unabhängig von ihrer Konfession. Nur gemeinsam kann ein Wohlklang entstehen." Das Komponieren des Musikstückes war für sie nichts Alltägliches, weil die Glocken im Tonumfang begrenzt sind: "Ich habe nur anderthalb Oktaven verwendet, das war eine Herausforderung." Ihre Motive will sie in unterschiedlichen Variationen klingen lassen.
Schallgeschwindigkeit miteinberechnet
Damit auch wirklich alle Glocken im Konzert zusammenklingen, war viel Vorarbeit nötig. Zunächst mussten Schimke und Marchenkova Frei alle Gemeinden, Pfarrer und Kirchenvorstände von der Aktion überzeugen. "Fast alle waren sofort begeistert", berichtet der Tubaspieler. "Sie haben gesehen, dass es etwas Wunderschönes und Außergewöhnliches ist."
Danach kamen praktische Überlegungen: Wie bringt man alle Glocken - vom tiefen E0 in der Stiftskirche bis zum hohen as2 in der Kapelle Maria Einsiedeln - so koordiniert zum Klingen, dass der Zuhörer am Hörort das ganze Stück wahrnehmen kann? Zum Beispiel vergehen etwa 20 Sekunden, bis der Schall von der am weitesten entfernten Kirche im Westen der Stadt zu den Zuhörern gelangt ist. "Dazu müssen wir auch die Temperatur berücksichtigen, die die Schallgeschwindigkeit beeinflusst, und die Reaktionsfähigkeit der Mitwirkenden", so Schimke.
Nur in einigen Kirchen sollen die Glocken mit Minicomputern angeschlagen werden, den größten Teil bringen rund 50 Freiwillige zum Klingen. Damit das genau zur richtigen Zeit passiert, entwickelte ein Freund Schimkes eine Smartphone-App: Sie zeigt einen Countdown und ein Signal zum Auslösen und Stoppen des Schlages an. In die Berechnung des Signals sind die individuelle Reaktionszeit des Mitwirkenden und die Dauer der Umsetzung mit eingeflossen, die von der Auslösung des Signals bis zum Klang der Glocke vergehen. Bei manchen Glockentürmen kommt jedoch noch eine Schwierigkeit hinzu: "Gerade moderne Türme aus Betonbauweise sind sehr offen gebaut und bestehen manchmal nur aus zwei Wänden. Die Mitwirkenden dort sind Hobbykletterer und werden sich in der Höhe absichern", erklärt Schimke.
Keine Generalprobe mit Glocken
Ob dann am Sonntag alles klappt? Eine Generalprobe mit Glocken haben die Komponistin und der Musiker nicht durchgeführt. "Wir wollen ja nicht vorher das Pulver verschießen", so Schimke. Aber natürlich wurde geprobt: Jeder Mitwirkende erhielt einen Glockenspielstab in der Tonhöhe "seiner" Glocke, damit die Kompositionen zusammen durchgespielt werden konnte. "Das ist wichtig für die Spieler, einmal das ganze Stück zu hören", erklärt Schimke. "Bei der Aufführung sitzen sie allein in ihrem Turm und werden vermutlich nicht alles mitbekommen."
Seit Januar 2015 sind der Musiker und die Komponistin mit den Vorbereitungen beschäftigt. "Das war eigentlich eine Vollzeitstelle", so Schimke. Jetzt freuen sich beide sehr auf das Konzert – aber sind auch gespannt, ob alles klappt. "Es gibt so viele Kleinigkeiten, von denen das Gelingen abhängt!", meint Schimke. Und dennoch ist er optimistisch. "Die Resonanz bisher war so positiv! Und wenn am Sonntag tausende Leute dort sind, die eine halbe Stunde still ihrer Stadt zuhören, dann wird es großartig."