Zwischen Euphorie und Dauerpessimismus
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Es war warm in diesen Septembertagen, und die Stimmung am Münchner Hauptbahnhof passte zu diesem nicht enden wollenden Sommer des Jahres 2015. Aus den Zügen quollen erschöpfte Menschen, und hinter den Absperrungen standen die Münchner und reichten Käsesemmeln und Wasser, sie applaudierten und hatten mit Filzstift auf Pappe geschrieben: "Refugees welcome". Es war eine große Willkommensparty, getragen von der Euphorie der schwarmintelligenten, spontanen Hilfe und Angela Merkels "Wir schaffen das"; ihre Musik war die Menschlichkeit und das kollektive Gefühl, die Welt in dieser Nacht am Hauptbahnhof ein bisschen besser zu machen, zu den Guten zu gehören.
Wie fern das ein Jahr später scheint! Es hat furchtbare Anschläge gegeben und die Kölner Silvesternacht, es sind die Zweifel gewachsen, dass eine Million Flüchtlinge, Traumatisierte aus einer fremden Welt, so einfach in Gesellschaft und Arbeitsleben zu integrieren sind, wie das der Satz der Kanzlerin suggerierte. Und aus der Schwarmeuphorie ist ein lähmender Schwarmpessimismis geworden, gepaart mit Angst vor dem Abgrund und unbestimmter Wut gegen die Fremden, den Islam, die da oben.
Gibt es nicht irgendetwas zwischendrin? Zwischen naiver Euphorie und ebenso naivem Dauerpessimismus? Eine Haltung, die nüchtern die Probleme sieht und nicht klein redet, die aber auch nicht in den mentalen Abfalleimer drückt, was alles gut gegangen ist in diesem Jahr? Es sind eine Million Menschen versorgt worden, die meisten menschlich und gut. Es haben die so oft gescholtenen Polizisten und deutschen Verwaltungsbeamten Großes geleistet, die Bürgermeister und Landräte. Es haben Caritas, Diakonie und viele freie Träger professionell geholfen. Es haben viele Millionen Menschen geholfen und helfen noch - auch solche, die sich Sorgen machen, weil so viele muslimische Männer gekommen sind. Es hat viele Enttäuschungen gegeben in diesem Jahr, aber mindestens genauso viele Geschichten des Glücks und des Ankommens in Deutschland.
Die Jahrestage des großen Flüchtlingszugs sind eine Gelegenheit, das alles nüchtern nebeneinander zu stellen. Und auch mal stolz auf das zu sein, was da alle gut gelaufen ist in diesem Land.
Der Autor
Matthias Drobinski ist Redakteur bei der "Süddeutschen Zeitung" und dort unter anderem für die Berichterstattung über Kirchen und Religionsgemeinschaften zuständig.Hinweis
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