Zum "Menschenmaterial" degradiert
Umso passender war es, eine Vorabvorführung des Kinofilms "Meine keine Familie" (Start: 24. Oktober), der die berühmte Mühl-Kommune beleuchtet, mit einer Diskussion über Missbrauch zu verknüpfen. An der öffentlichen Debatte nahmen Opfer und Schulleiter zweier betroffener Ordensschulen in Bonn, dem Aloisiuskolleg und dem Collegium Josephinum, teil.
„Wer den Krieg abschaffen will, muß zuerst die Kleinfamilie beseitigen.“
In der Dokumentation "Meine keine Familie" geht Paul-Julien Robert, der 1979 in die Kommune Friedrichshof des im Frühjahr verstorbenen Wiener Aktionskünstlers Otto Mühl hineingeboren wurde, seiner Vergangenheit nach. Gemeinschaftseigentum, freie Sexualität und Auflösung der Kleinfamilie waren die Grundprinzipien der größten Kommune Europas. Aber auch: Hackordnung in der Gruppe, mangelnde Selbstbestimmung und ein wachsender Autoritarismus des 1991 Verurteilten Gründers Mühl, der in sogenannten Aktionsanalysen jeweils ein Kommunenmitglied in Zirkusmanier in die Mitte holte und ihm Befehle erteilte.
Paul-Julien Robert befragt nicht nur seine Mutter und die drei als Vater in Betracht kommenden Männer über ihre Motive, sondern zeigt auch das Aufwachsen der Kinder, das damals jeden Tag auf Video festgehalten wurde. Obwohl familiäre Bindungen der Ideologie der Kommune widersprechen, zeigen die Archivbilder, wie aus dem glücklichen kleinen Paul ein verstörtes Kind wird, nachdem seine Mutter zum Geldverdienen in die Schweiz geschickt wird und er von der Gemeinschaft aufgezogen wird. Auch die Praxis der "Einführung in die Sexualität" von geschlechtsreifen Mädchen durch Mühl – von Jungen durch seine "erste Frau" Claudia – schildert in dem Dokumentarfilm ein Betroffener, der einige Jahre älter als Paul ist.
Selbstbestätigung nur als Sexsklave?
Von dem sexuellen Missbrauch im Bonner Josephinum des Redemptoristen-Ordens in den 60er-Jahren hingegen gibt es keine Dokumentationen in Form von Foto- oder Videomaterial, nicht einmal Unterlagen, in denen die Versetzung eines Paters begründet wurde. Trotzdem sei "das Internat der 60er-Jahre eins zu eins in der österreichischen Kommune" wiederzufinden, sagte Winfried Ponsens vom Missbrauchsopfer-Verein. Die Schüler seien als "Menschenmaterial" betrachtet worden, dazu außerwählt, Priester oder Ordensmann zu werden. Ähnlich wie im Film, habe für die Kinder die einzige Möglichkeit zur Selbstbestätigung darin bestanden, sich als Sexsklave zur Verfügung zu stellen, so die heutige Analyse von Ponsens.
Jürgen Repschläger vom "Eckigen Tisch" der Geschädigten an Jesuitenschulen beklagte, dass in der Aufklärung am Aloisiuskolleg noch lange nicht genug erreicht sei. Bis heute werde nur scheibchenweise das zugegeben, was ohnehin evident sei. Dass es an der Bonner Schule noch großen Aufklärungsbedarf gebe, hatte auch der ehemalige Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, Jesuitenpater Klaus Mertes, im Mai bei einer Anhörung mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung zugegeben. Drei Jahre nach Beginn des Skandals sei das Thema auch bei den Jesuiten noch nicht ausgestanden.
Eltern sollten nicht wegschauen
Einig waren sich in Bonn alle Diskutierenden, dass man auch heute bei isolierten "Macht-Inseln" in gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen wachsam sein müsse. Hinter jedem Täter stehe oft ein System, das dessen Handeln zulasse, sagte der Rektor des Aloisiuskollegs, Pater Johannes Siebner. Conny Schulte von der Bonner Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt erinnerte daran, dass in drei von vier Missbrauchsfällen die Täter aus der Familie oder dem Umfeld der Kinder stammten. Zudem werde den Kindern oft nicht geglaubt, solange die Fälle noch aktuell seien. "Inwieweit sind alle – Eltern, Lehrer, Trainer – blind?", fragte Schulte.
In einer der eindrücklichsten Szenen von "Meine keine Familie" wird ein weinender Junge von Otto Mühl gezwungen, vor der Kommune Mundharmonika zu spielen. Als er, von Weinkrämpfen geschüttelt, immer wieder abbricht, kippt ihm Mühl eine Flasche Wasser über den Kopf und ruft dem Jungen hinterher, dass er am nächsten Abend wieder spielen müsse - so lange bis er es könne. Keiner der mehr als hundert Kommune-Bewohner greift ein.
Von Agathe Lukassek