"Wir müssen zeigen, dass wir leben"
Ein Jahr nach dem Terror sind Trauer und Schmerz fein säuberlich katalogisiert und in grauen Kartons verpackt. 16 Regalmeter Entsetzen in einem Verwaltungsbau im Pariser Nordosten. Wie dieser von Kinderhand unterstrichene Aufschrei: "Ihr Terroristen seid böse!!!" Tausende solcher Botschaften haben Menschen nach den Pariser Terroranschlägen vom 13. November 2015 an improvisierten Gedenkstätten niedergelegt. Spontane Reaktionen auf das Grauen. Das Stadtarchiv hat die Zeichen der Solidarität gesammelt, getrocknet, desinfiziert und für die Ewigkeit verwahrt.
Die Terrornacht raubte der französischen Hauptstadt ein Stück ihrer Leichtigkeit. Sie hat Frankreichs Politik nach rechts verschoben und Europa schmerzlich vor Augen geführt, wie gefährlich nah die islamistische Bedrohung ist. Doch eine Spurensuche vor dem Jahrestag zeigt auch, wie eine Stadt mit solchen Wunden umgehen kann - und dass die Attentäter den Lebensdrang der Menschen nicht besiegt haben.
Ein Archiv der großen Trauer
Mathilde Pintault öffnet eine Box, die Kennzeichnung auf dem Deckel beginnt mit der Nummer 3904W. Dahinter verberge sich alles, was rund um den Konzertsaal "Bataclan" abgelegt wurde, erläutert die Archivarin. Mehr als 9000 Dokumente haben die Experten über Monate vor Regen und Wind gerettet. Archiv-Mitarbeiterin Audrey Ceselli erzählt: "Botschaften wurden auf Metrotickets geschrieben, auf Visitenkarten, auf Hamburgerverpackungen, auf Postkarten." Ein starker Drang, sich mitzuteilen, teilzuhaben, Trauer auszudrücken.
Patricia Correia schaut auf das gerahmte Porträt ihrer Tochter, daneben eine Kerze und ein kleiner Eiffelturm in Frankreichs Nationalfarben Blau-Weiß-Rot. "Was für eine Verschwendung", sagt die Französin. Fast ein Jahr ist es her, dass Précilia im Konzertsaal "Bataclan" ermordet wurde. Eines von insgesamt 130 Anschlagsopfern. Die Frau wurde nur 35 Jahre alt. "Sie liebte Musik", erzählt die Mutter, in deren Stimme bis heute Schmerz spürbar ist. "Sie haben unsere Kinder ermordet. Man darf das niemals vergessen."
"Mein Leben ist umgestürzt"
Précilia hatte neben der französischen auch die portugiesische Staatsbürgerschaft. Sie habe sich gewünscht, im Fall ihres Todes in Portugal bestattet zu werden, erzählt die Mutter. Plötzlich wird ihre Stimme hart: "Und außerdem wollte ich nicht, dass sie dort liegt, wo man sie ermordet hat", sagt sie. "Mein Leben ist umgestürzt", erzählt Correia. "Wenn Sie kein Kind mehr haben, Ihre einzige Tochter ermordet wurde, da suchen Sie einen Sinn im Leben." Sie findet Halt im Engagement in der Opferorganisation "13. November: Brüderlichkeit und Wahrheit". Auf ihrem Tisch stapeln sich Unterlagen, zwischendurch ruft eine Anwaltskanzlei an.
So streitet sie für die Rechte der Opfer und Hinterbliebenen, für mehr Unterstützung und Aufklärung. Sie gerät in Rage, wenn sie Versäumnisse der Behörden auflistet. "Man stellt sich immer die Frage: Könnte mein Kind am Leben sein? Hätte es nicht gerettet werden können?" Für Staatschef François Hollande hat sie harte Worte: "Für mich ist das der Präsident der Anschläge", sagt sie. "Er kann nicht überall sein. Aber es gab nun doch viele Fehler." Dabei ist klar: Man dürfe sich nicht der Diktatur dieser verrückten Täter unterwerfen. "Ich sage, das 'Bataclan' muss wieder öffnen", betont Correia.
Das "Bataclan" beginnt neu
Der traditionsreiche Konzertsaal wird tatsächlich neu beginnen. Nach monatelangen Renovierungsarbeiten sind kürzlich die Bauzäune entfernt worden. Ein neuer Schriftzug prangt über dem Eingang. Die Wiedereröffnung ist für den Vorabend (12. November) des Jahrestags angekündigt: mit einem Auftritt des Briten Sting im "Bataclan". Jens Althoff war erst kurz vor dem Anschlag in ein Haus ganz in der Nähe des Clubs gezogen. "Das Schlimmste waren die Stunden, wo man wusste: Gegenüber werden Leute massakriert", erinnert sich der Leiter des Pariser Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. Am 13. November kam er wenige Minuten vor der Attacke nach Hause. Vorher war er noch in einer Bar um die Ecke. "Das ging sehr unter die Haut", sagt er.
Über Stunden zog sich die Geiselnahme hin, dann das Geratter der Detonationen, als die Polizei stürmte. "Danach war dann Totenstille." Althoff sitzt im "Petit Cambodge", einem der Läden, die am 13. November zu Orten des Massenmordes wurden. Das asiatische Restaurant liegt nahe dem Canal Saint-Martin, der wie eh und je ein beliebter Foto-Spot für Touristen ist. Es hat im März wiedereröffnet, ganz renoviert, und ist an diesem Mittag gut besucht.
Von dem Drama zeugt nur ein dezentes Mosaik: weiße Kacheln, wie Sterne auf der grauen Wand. Mehr als ein Dutzend Menschen wurden hier und bei der gegenüberliegenden Szenebar "Le Carillon" ermordet. Doch das Leben ist zurückgekehrt, abends sitzen an den Tresen junge Leute. Alle attackierten Läden sind seit Monaten wieder in Betrieb, die Einschusslöcher in den Glasscheiben verschwunden. Die Statue auf dem Platz der Republik ist von Plakaten und Slogans grundgereinigt worden, nur an einem Baum in der Ecke des Platzes erinnern eine Gedenktafel, Fotos und Zeichnungen an das Grauen.
Es sei "typisch pariserisch", gerade jetzt weiterzumachen, sagt Althoff. Aus deutscher Sicht hätte man den "Bataclan"-Club vielleicht zu einem Erinnerungsort umbauen müssen. "Mir haben Pariser aber gesagt: Nein, gerade nicht, gerade dort muss wieder zu guter Musik getanzt werden." Doch ganz unbeschwert ist das alles nicht. "Wenn Leute jemanden sehen, der sich ungewöhnlich verhält, gibt es sofort eine erhöhte Aufmerksamkeit", sagt der 44-Jährige.
Viele rechnen mit neuen Anschlägen
Die Möglichkeit des Terrors ist in den Köpfen fest verankert. Viele rechnen mit weiteren Dramen. Wer in den Vierteln rund um die Anschlagsorte spazierengeht, trifft früher oder später auf eine Patrouille von Soldaten, zu viert. Alle halten Famas-Sturmgewehre in den Händen, wie jederzeit bereit zum Straßenkampf.
Paris, Nizza, der Priestermord von Saint-Étienne-du-Rouvray: Die Anschlagsserie verunsichert das Land. Im laufenden Vorwahlkampf für die Präsidentenwahl sind die Anti-Terror-Strategie und die nationale Identität großes Streitthema. "Der Terrorismus hat die Krise der Republik verschärft", meint der Soziologe Michel Wieviorka. "Die Institutionen und der Staat sind durch den Terrorismus auf eine harte Probe gestellt worden, aber das französische republikanische Modell hatte ohnehin große Schwierigkeiten."
Die Regierung sei nach dem 13. November nach rechts gerückt - ein Kurswechsel, den es nach dem Anschlag auf die Satire-Zeitschrift "Charlie Hebdo" Anfang 2015 noch nicht gegeben hatte. Und die Debatte um den Islam habe sich verändert. Zum einen seien anti-muslimische Gefühle verstärkt worden, sagt Wieviorka. Andererseits richteten sich die Anschläge von Paris und von Nizza gegen keine bestimmte Gruppe, sondern nahmen potenziell auch Muslime ins Visier. Das habe es den Muslimen erleichtert, sich klarer gegen die Extremisten zu stellen.
Der Held vom Fußballstadion
Salim Toorabally hat sich herausgeputzt, mit Anzug und Krawatte kommt er an das Stade de France im Pariser Vorort Saint-Denis. Der 13. November sei in seine Erinnerung eingebrannt, sagt der 44-Jährige. Seine Geschichte ist der Beweis, dass an jenem Tag nicht alles schief lief. Dass es noch viel schlimmer hätte kommen können, wenn dieser französische Muslim nicht seinen Job gemacht hätte. Der Sicherheitsmann hinderte am Stadion, in dem Frankreich gegen Deutschland spielte, einen der Attentäter daran, auf das Gelände zu gelangen. Ohne zu ahnen, dass der junge Mann vor ihm einen Sprengstoffgürtel trug. Um 21.19 Uhr dann jagte sich vor dem Tor D der erste Selbstmordattentäter in die Luft - der Beginn der verheerenden Terrorserie. Toorabally ging zum Ort der Explosion, leistete Erste Hilfe.
Der Abend belaste ihn bis heute. Zugleich hat sein Einsatz ihm ungeahnte Bekanntheit verschafft, die Medien stürzten sich auf seine Geschichte. Obwohl er anfangs dagegen war, fasste er den Mut, wieder am Stade de France zu arbeiten. Während der Fußball-Europameisterschaft war er im Einsatz, ist stolz darauf, dass Frankreich damit der terroristischen Bedrohung trotzte. "Wir dürfen keine Angst haben, zu einem Fußballspiel zu gehen, ins Theater oder ins Kino, ins Restaurant. Wir müssen zeigen, dass wir leben."