Der Journalist Anciberro zur Rolle der Kirche in Frankreich

"Katholischsein ist etwas Exotisches"

Veröffentlicht am 23.02.2014 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Kirche in Frankreich

Paris ‐ Frankreich ist in ethischen Fragen gespalten wie nie. Während die Regierung neue Gesetze vorlegt, gehen Zehntausende auf die Straße, um für ihr Bild von Familie und Leben zu demonstrieren. Der Chefredakteur der christlichen Wochenzeitung "La Vie" spricht darüber.

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Frage: Herr Anciberro, Staatspräsident Francois Hollande hat zu Jahresbeginn angekündigt, aktive Sterbehilfe zu erlauben. Im Fall des Koma-Patienten Vincent Lambert tut sich der oberste Gerichtshof derzeit schwer, eine Entscheidung zu treffen, ob ob die künstliche Ernährung eingestellt werden darf. Zeichnet sich eine gesetzliche Lösung ab?

Anciberro: Der Fall Lambert ist kompliziert. In Ausnahmefällen ist Beihilfe zum Tod nach dem "Leonetti-Gesetz" ja erlaubt. Einer der Mediziner, der eigentlich Gegner der aktiven Sterbehilfe ist, plädiert in diesem Fall für ein Abstellen der Ernährung. Insgesamt scheint es, als sei eine Mehrheit der Franzosen für eine Ausweitung des Gesetzes auf aktive Sterbehilfe. Doch das hängt meiner Ansicht auch damit zusammen, dass viele offenbar die Bedeutung des Begriffs nicht ganz verstanden haben und die Dinge durcheinanderbringen.

Frage: Braucht es mehr Zeit zur Aufklärung?

Anciberro: Zu Fragen des Lebens und der Familie gibt es in Frankreich heftige Diskussionen, und die verschiedenen Standpunkte radikalisieren sich immer sofort. Spätestens seit Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe im vergangenen Jahr hat die Debatte Ausmaße angenommen, die nicht vergleichbar sind mit anderen Ländern. Es gibt ein totales Unverständnis zwischen den beiden Lagern. Es gibt jene, die mit der Zeit gehen wollen und Änderungen wie die Legalisierung aktiver Sterbehilfe begrüßen. Eine ganze Politikergeneration, besonders im linken Lager, hat kein Verständnis mehr für eine christliche Anthropologie. Dagegen wiederum positionieren sich extreme katholische Gruppen.

Frage: Im Lager der konservativen "Manif pour tous" kämpfen aber auch Muslime gegen eine französische Familienpolitik, die etwa die Rechte homosexueller Paare stärken will.

Anciberro: Ja, angefangen hat es mit der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Damals protestierten nur wenige Muslime, doch das hat in jüngster Zeit stark zugenommen. Der Protest der Muslime richtet sich vor allem gegen das vom französischen Bildungsministerium herausgegebene Bildungskonzept "ABCD der Gleichstellung", das Schüler für die Gleichheit der Geschlechter sensibilisieren soll. Nun protestieren sie gemeinsam mit den Anhängern der "Manif pour tous".

Jerome Anciberro im Portrait
Bild: ©KNA

Jérôme Anciberro ist Chefredakteur der christlichen Wochenzeitung "La Vie".

Frage: Bei der "Manif pour tous" haben auch einige katholische Bischöfe mitprotestiert. Welche Rolle spielt die Kirche bei der Diskussion um die Familienpolitik?

Anciberro: Die Katholiken bilden in der "Manif pour tous" die absolute Mehrheit. Nur ein kleiner Teil ist evangelisch, muslimisch oder eines anderen religiösen Bekenntnisses. Die Institution Kirche und die Französische Bischofskonferenz allerdings sind stark im Hintergrund geblieben. Zwar drückten sie in einigen Botschaften ihre Besorgnis über Änderungen im Familiengesetz aus, das künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft legalisieren sollte. Das taten sie allerdings in deutlich milderem Ton als die Demonstranten der "Manif". Manche Bischöfe riefen dazu auf, sich an den Protesten zu beteiligen, andere grenzten sich öffentlich ab. Es gibt keine Einstimmigkeit der Kirche bei diesen gesellschaftlichen Fragen.

Frage: Sie sagten, Kirche und Christentum würden von einigen Politikern nicht mehr verstanden. Woran liegt das?

Anciberro: In Frankreich verschwindet die christliche Kultur - ein Prozess, der sehr schnell verläuft. Wenn ich in Deutschland jemanden frage, was Ostern oder Auferstehung bedeutet, wissen die meisten es noch so ungefähr. In Frankreich könnten es vielleicht drei von zehn Leuten erklären. Zwar gibt es in Frankreich noch eine katholische Mehrheit, doch die Zugehörigkeit besteht meist nur auf dem Papier. Es gibt vielleicht noch etwa zehn Prozent praktizierende Katholiken. Die anderen haben lediglich eine von Klischees geprägte Außenansicht auf die Kirche. Deshalb verstehen die meisten auch nicht, was die Kirche sagen will. Alles, was von der Kirche kommt, ist ihnen fremd und in ihren Augen radikal.

Frage: Was kann die Kirche in Frankreich entgegenhalten?

Anciberro: Das ist eine gute Frage. Die Katholiken versuchen schon, präsent zu sein, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, ihnen Dinge zu erklären. Tatsächlich ist Katholischsein in Frankreich etwas Exotisches. Wenn ein 40-Jähriger seinen Freunden abends in der Bar erzählt, dass er in die Messe geht, steht er im Verdacht, ein Extremist zu sein. Katholiken müssten sich heutzutage einfach zeigen, wie sie sind. Sie müssten auch eine andere Sprache sprechen - denn die Sprache, die die Kirche verwendet, wird nicht mehr verstanden.

Frage: Schaut man manchmal mit Neid auf den Nachbarn Deutschland?

Anciberro: Ab und zu gibt es antideutsche Stimmungen im Land. Etwa, wenn ein Minister einen Spruch über Deutschland loslässt. Aber das ist natürlich weit weniger schlimm als im Süden Europas, etwa in Spanien, Griechenland oder Italien. Die extreme Linke teilt am ehesten die scharfen Urteile gegenüber Angela Merkel und dem Euro. Aber natürlich gibt es ein wenig Neid auf die geringe Arbeitslosigkeit und die gut laufenden Exporte in Deutschland.

Das Interview führte Claudia Zeisel (KNA)