Vier Jahre Franziskus: Eine Zumutung für Katholiken
Schon mit seinen ersten beiden öffentlichen Worten als Bischof von Rom ließ Papst Franziskus am Abend des 13. März 2013 ahnen, dass in der Kirche bald ein neuer Wind wehen würde: "Guten Abend." Was in erster Betrachtung nur ein banaler Gruß war, beinhaltet doch zugleich die Grundlage seines gesamten Pontifikats. Nicht in den gesagten Worten freilich, sondern im Gefühl, das er der Weltkirche in diesem Moment vermittelte: Ich bin ein Gläubiger wie Ihr.
Geliebter Franziskus, gelehrter Benedikt
Schon in diesen Worten schien ein Kontrast zwischen dem geliebten Franziskus und seinem Vorgänger, dem gelehrten Benedikt, auf. Dieser macht dem amtierenden Pontifex nun noch am Beginn seines fünften Amtsjahres zu schaffen. Denn einer der roten Fäden seines Pontifikats ist die Kritik an dessen vermeintlicher Theologiearmut. Der Papst würde, so die bekannte Kritik, sich forsch ans pastorale Werk machen, dieses aber nicht lehramtlich unterfüttern. Diese Kritik verkennt, dass Franziskus der päpstlichen Theologie eine neue Logik verleiht. Mit seinem Pontifikat hat eine Globalisierung des Glaubens eingesetzt. Indem Franziskus mit lehramtlichen Festlegungen besonders in Detailfragen spart, setzt er ein starkes Zeichen für die Individualität des Glaubens.
Der Papst verzichtet damit nicht auf die Ausübung seiner lehramtlichen Kompetenz. Im Gegenteil: Kraft seiner apostolischen Autorität verweist er darauf, dass er nicht regeln muss, was bereits geregelt ist. Bei kaum einem Thema ist dies so offenkundig wie beim anhaltenden Streit um "Amoris laetitia". "Das ist sichere Lehre", sagt Franziskus jenen, die ihm eine Aufweichung bestehender Normen vorwerfen. Er macht damit unmissverständlich klar: Was bisher galt, gilt auch weiterhin.
Auch an anderen Stellen machte Franziskus deutlich, dass sein Wirken in einer Hermeneutik der Kontinuität zu verstehen ist: Bei der Frage der Priesterweihe für Frauen, wo er auf die klare Absage durch Papst Johannes Paul II. verwies, bei der Frage des Umgangs der Kirche mit Homosexuellen, wo er auf den Katechismus verwies, bei der Frage der Kommunionteilnahme von Protestanten, wo er auf das Kirchenrecht verwies. Bei keinem dieser oder ähnlich brisanter Themen fällte Papst Franziskus eine deutliche lehramtliche Aussage; weil er es nicht tun musste.
Franziskus' Theologie basiert nicht in erster Linie auf der zentralen Weisungskompetenz für die Weltkirche. Die Unterweisung sei ja bereits geschehen und müsse nicht wiederholt werden, macht er deutlich. Vielmehr will dieser Papst "vom Ende der Welt" die Gläubigen in der Welt stärken, indem er an ihre eigene Kompetenz und vor allem Verantwortung in Glaubensfragen appelliert. Das ist sein theologisches Programm. Und in dieses muss sich auch die Debatte um die Fußnote in "Amoris laetitia" einfügen. Nur wer davon ausgeht, dass Franziskus grundsätzlich nicht in der Kontinuität des Lehramtes steht, kann darin einen Bruch sehen. Andernfalls muss sie, wie der Papst durch vielfältige Äußerungen deutlich machte, als ein Auftrag zu Selbstreflexion und entsprechendem Handeln verstanden werden. Denn davon spricht das gesamte Nachsynodale Schreiben: von der Würde und dem Auftrag der christlichen Liebe. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet das theologisch gehaltvollste der bisherigen Werke des Papstes als Beweisstück für dessen angebliche theologische Schwäche herhalten muss.
Radikaler Bruch mit Vorgängern
Dennoch steht außer Frage, dass das Pontifikat Franziskus' eine Herausforderung für die Katholiken ist. Er bricht auf radikale Weise mit seinen Vorgängern, zumal mit Johannes Paul II., dem starken Regenten, und Benedikt XVI., dem weisen Lehrer. Wer sich einen Papst als prägnanten Führer im Zentrum der Kirche wünschte, für den ist Franziskus eine Zumutung. Eine Rolle, der sich der Pontifex offensichtlich vollends bewusst ist und die er auch sehr bewusst spielt.
Denn Franziskus' Theologie der individuellen Verantwortung mutet den Gläubigen tatsächlich sehr viel zu. Oder anders gesagt: Franziskus spricht den Gläubigen Mut zu, verantwortungsvolle Gläubige zu sein. Den eindrucksvollen Aufschlag machte er ein Dreivierteljahr nach Amtsantritt mit seiner Exhortation "Evangelii gaudium", in der er eine Kirche forderte, die an Ränder geht. Berüchtigt ist sein Auftrag an die Hirten der Kirche, nah bei den Schafen zu sein. Doch darin erschöpft sich der Auftrag des Evangeliums nicht. Den Aufbruch zu einer Kirche auf neuen Wegen muss jeder Gläubige selbst machen. Spätestens mit diesem Schreiben war klar: Vorüber die Zeiten, in denen Schäfchen Weisungen erhielten, denen sie nur folgen mussten.
Über den Kreis der Katholiken hinaus nahm Franziskus mit seiner Enzyklika "Laudato Si'" die gesamte Menschheit in die Pflicht, ihre Verantwortung für die Schöpfung damit füreinander ernst zu nehmen. Seine deutlichen Worte über Umweltsünden und menschenfeindliche Wirtschaft waren für viele Politiker wie Manager eine wirkliche Zumutung. Seit Beginn seines Pontifikats hat Franziskus außerdem die Reform der Kurie zur Chefsache gemacht. Schon Benedikt wusste, dass sein Verwaltungsapparat fehleranfällig war. Doch der neue Papst stellt mitten im Zentrum der Kirche alles auf den Kopf. Die Säuberung von Klüngel, Intrigen und sonstigem Schmutz folgt seiner theologischen Devise, den automatischen Vorrang der Hierarchie vor dem Einzelnen abzustellen.
Die Kurienreform offenbart aber auch eine problematische Seite der päpstlichen Theologie, denn nicht wenige fühlen sich durch sie überfordert. An vielen Stellen geht der Umbau der Verwaltung gegen interne Widerstände nur schleppend voran. Dies allein auf bornierte Prälaten zu schieben, die ihrer Pfründe nicht verlustig gehen wollen, ist zu einfach. Denn was bei einer Verwaltungsreform noch weniger augenscheinlich ist, wirkt sich in anderen Bereichen deutlich wirkmächtiger aus: Franziskus' theologisches Programm eröffnet Freiräume, die zu schließen Kraft und Anstrengung fordert.
Worüber debattieren?
So ist dies etwa beim päpstlichen Vorstoß zur Frage des Diakonats der Frau der Fall. Während er der Priesterweihe für Frauen eine deutliche Absage erteilte, öffnete er beim Diakonat scheinbar doch wieder eine Tür. Sein Wunsch nach einer möglichst freien, breiten Debatte ging hier wie an anderer Stelle mit dem Problem einher, dass viele schlicht nicht wussten, worüber sie debattieren sollten. Ähnlich ungeordnet erscheinen die Verhandlungen mit den Traditionalisten der Piusbruderschaft über eine Rückkehr in die Kirche. Statt auf harte theologische Forderungen, wie sein Vorgänger Benedikt, setzt Franziskus dabei auf barmherzige Weite; zu Ungunsten messbarer Ergebnisse.
Franziskus stellt die Kirche mit seiner neuen Lesart des Papsttums vor eine Herausforderung. Doch diese ist durchaus ihrer Zeit gemäß. Die Ära des bipolaren Realismus ist schließlich nicht nur in der Politik vorüber. Auch die Kirche kann in einer globalisierten und individualisierten Welt nicht länger auf harte Grenzen zwischen richtig und falsch setzen; die meisten Gläubigen leben selbst irgendwo dazwischen. Papst Franziskus übersetzt das auf seine Weise in die Theologie: Nicht harte Doktrin und nicht sanfte Beliebigkeit, sondern immer dazwischen.