Die unsichtbare Kriegsverletzung

Hat er dort möglicherweise so stark Schaden an seiner Seele genommen, dass aus dem Heimkehrer Jahre später und unter äußerlich friedlichen Bedingungen ein Täter wurde? Gerade wird die Personalakte des 34-Jährigen in Augenschein genommen. Litt er unter einer "Posttraumatischen Belastungsstörung" (PTBS)?
Seit deutsche Soldaten bei ihren Auslandeinsätzen im Kosovo und vor allem in Afghanistan mit Zerstörung, Verwundung und Tod konfrontiert sind, findet sich der Eintrag PTBS auch in Krankenakten der Bundeswehr. Für das vergangene Jahr 2013 verzeichnet die Statistik 149 Neuerkrankungen und 1274 "Wiedervorstellungen", die überwiegend auf ISAF-Einsätze, also solche in Afghanistan, zurückzuführen sind.
Jahrelanges Trauma durch Kriegserlebnisse
Wenn Soldaten im Einsatz beschossen und schwer verwundet werden, wenn ihr Kamerad nur einen Meter entfernt sein Leben verliert, wenn sie nach einem Selbstmordattentat abgetrennten Gliedmaße von Opfern durch die Luft fliegen sehen oder selber jemanden verwunden oder töten müssen, können sie eine Störung entwickeln, die die Betroffenen oft jahrelang quält und gesellschaftlich lähmt.

Erlebnisse bei Auslandseinsätzen können schwere Traumata auslösen.
Soldatische PTBS-Patienten leiden unter Alpträumen und Flashbacks, sind angespannt und reizbar. Als veränderte Partner, veränderte Väter oder Mütter, Töchter und Söhne kommen sie von ihren Einsätzen zurück. Weil sie bestimmte, schlimme Erinnerungen auslösende, Reize meiden (zum Beispiel Kinderschreie auf dem Spielplatz oder den Geruch von verbrennendem Kotelett beim Grillfest) isolieren sie sich oft vom alltäglichen Leben der anderen.
Nicht jede Soldatin, jeder Soldat erlebt im durchschnittlich vier Monate dauernden Afghanistan-Einsatz Verstörendes. Und längst nicht alle, die schreckliche Erfahrungen machen, werden dadurch krank. Ob ein traumatisches Erlebnis sich zu einer Störung verfestigt oder seelisch überwunden werden kann, wird durch ganz verschiedene Faktoren - innerliche wie äußerliche - mitbestimmt. Um viele von ihnen positiv zu beeinflussen, hat die Bundeswehr ein "medizinisch-psychologisches Stresskonzept" entwickelt, das vorbereitende, begleitende und nachbereitende Maßnahmen bündelt.
Stress vermeiden, Stress bewältigen, Hilfe annehmen
Vor ihren Auslandseinsätzen werden die Soldaten lange ausgebildet. Sie üben sich im Umgang mit Belastungen und Verwundungen und setzen sich in Rollenspielen mit Extrem-Situationen wie Entführungen, Geiselnahme und Gefangenschaft auseinander. Dazu kommen Stressbewältigungsmethoden und eine psychologische Erste-Hilfe-Ausbildung für Kameraden in Not. Noch in Arbeit ist die Entwicklung eines Screening-Verfahrens, das Rückmeldung über gefährliche psychische Vorbelastungen von Bewerbern gibt.
Während des Einsatzes ist ein Team aus Sanitätern, Truppenpsychologen und Militärgeistlichen vor Ort. Militärdekan Joachim Simon vom Katholischen Militärbischofsamt in Berlin ist davon überzeugt, dass der Glaube in besonderem Maße bei der Verarbeitung von schwierigen Situationen hilft: "Internationale Untersuchungen beweisen, dass Menschen, die ein Korsett des religiösen Wertesystems haben, schneller über erlittene Traumatisierungen hinwegkommen oder gar nicht erst so anfällig sind, in ein tiefes Loch zu fallen, als Menschen ohne religiösen Glauben."
Nicht nur, weil ihre Gottesdienste ein Stück Heimat in der Fremde sind, gelten die katholischen und evangelischen Militärgeistlichen als wichtige Anlaufstelle, sondern auch, weil sie außerhalb der Hierarchie stehen. Schwäche, Ängste und Zweifel können ihnen gegenüber offen vorgebracht werden. Soldaten, die nach unerwarteten Einsatzerlebnissen den Kopf nicht mehr frei kriegen (War meine Entscheidung richtig? Sind die Vorwürfe meiner Kameraden berechtigt?) haben die Möglichkeit, Belastendes in einer Einzelsitzung mit dem Truppenpsychologen zu besprechen. Die Vielfalt der Gesprächsangebote soll ihnen dabei helfen, traumatischen Erlebnissen ihren Platz in der Vergangenheit zuzuweisen und wieder nach vorne zu blicken.
Das persönliche Image wiegt schwer
Legt man die Zahlen von 2013 zugrunde, sind es "nur" etwa drei Prozent aller Einsatzkräfte, die eine Posttraumatische Belastungsstörung neu entwickelt haben. Doch die vergleichsweise niedrige Prozentzahl ist trügerisch, die Dunkelziffer sehr hoch. Eine 2010 verfasste Studie der TU Dresden kommt zu dem Ergebnis, dass nur jeder zweite Betroffene sich um professionelle Hilfe bemüht. Es gehört viel dazu, sich und anderen eine grundlegende Beeinträchtigung durch Krankheitssymptome einzugestehen - die Sorge, als "Weichei" zu gelten, wiegt schwer. Auch über Folgeschäden, die erst viele Jahre später auftreten, kann die Statistik naturgemäß nur begrenzt Auskunft geben.
„Die Gespräche nach meiner Rückkehr haben mir sehr geholfen, weil ich für alle anderen schon wieder zu Hause angekommen war – nur für mich noch nicht.“
Um der Dunkelziffer entgegenzuwirken, werden alle Soldaten nach ihrer Rückkehr untersucht und befragt. Dabei geht es um Probleme der Wiedereingliederung in Alltag und Familienleben genauso wie um körperliche Beeinträchtigungen und ein eventuelles PTBS-Risiko. Entkräftete Heimkehrende können in eine dreiwöchige Präventivkur abtauchen.
Militärdekan Michael Rohde von der Evangelischen Militärseelsorge kennt und schätzt diese aus eigenem Erleben: "Einfach gesagt: Es soll sich nichts 'festsetzen'. Man kann Gespräche führen und wieder ein Stückchen zu sich selbst kommen, so dass die Verarbeitungsprozesse in einem geordneten Rahmen stattfinden. Ich war in Mazar-e Sharif während der Hauptkampfzeit 2010/2011 und danach hat sie mir wirklich geholfen. Weil ich für alle anderen schon wieder zu Hause angekommen war – nur für mich noch nicht."
Betreuung im Kriseneinsatz
Katholische MilitärseelsorgeDie Hemmschwelle für die zurückgekehrten Soldaten, sich über die eigene seelische Verfassung Gedanken zu machen und Unterstützung anzunehmen, soll so niedrig wie möglich werden. Deshalb gibt es von Seiten der Bundeswehr neben der verpflichtenden Einsatznachbereitung Hilfsangebote, auf die die Männer und Frauen freiwillig und anonym zugehen können. Auch ihr Ziel heißt, ernsthaften Erkrankungen vorzubeugen beziehungsweise PTBS-Erkrankten zu der dringend benötigten medizinischen Versorgung zu verhelfen.
Denn während der Amoklauf von Fort Hood als besonders entsetzliche und traurige Folgeerscheinung einer gestörten Psyche viel Aufmerksamkeit bekommt, leiden ganz im Verborgenen noch unzählige andere unter ihren seelischen Verwundungen.
Von Gerlind Schabert