katholisch.de veröffentlicht das Schreiben im Wortlaut

Vor G20-Gipfel: Papst schreibt Brief an Merkel

Veröffentlicht am 07.07.2017 um 12:55 Uhr – Lesedauer: 
Papst Franziskus empfängt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel am 21. Februar 2015 in einer Privataudienz im Vatikan.
Bild: © KNA
Vatikan

Vatikanstadt ‐ Erst vor drei Wochen war Angela Merkel zur Privataudienz beim Papst. Vor dem G20-Gipfel in Hamburg wendet sich Franziskus nun in einem Brief mit "einigen Überlegungen" an die Kanzlerin.

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Katholisch.de veröffentlicht den Brief von Papst Franziskus an Bundeskanzlerin Angela Merkel im Wortlaut:

Ihrer Exzellenz Frau
Dr. Angela Merkel
Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland

Im Anschluss an unsere kürzlich stattgefundene Begegnung im Vatikan und als Antwort auf Ihre freundliche Anfrage möchte ich Ihnen einige Überlegungen übermitteln, die ich, gemeinsam mit allen Hirten der katholischen Kirche, für wichtig erachte im Hinblick auf das nächste Treffen der Staats- und Regierungschefs der Gruppe der führenden Wirtschaftsnationen in der Welt und der höchsten Autoritäten der Europäischen Union (G20). Ich folge so auch einer Tradition, die von Papst Benedikt XVI. im April 2009 anlässlich des G20-Gipfeltreffens in London begonnen wurde. Mein Vorgänger schrieb auch Eurer Exzellenz im Jahr 2006, als Deutschland die Präsidentschaft der Europäischen Union und der G8 innehatte.

Zunächst möchte ich Ihnen und den in Hamburg zusammengekommenen Verantwortungsträgern meine Wertschätzung zum Ausdruck bringen für die umgesetzten Bemühungen zur Gewährleistung der Regierungsführung und der Stabilität der Weltwirtschaft unter besonderer Berücksichtigung der Finanzmärkte, des Handels, der steuerlichen Probleme und allgemeiner eines Weltwirtschaftswachstums, das inklusiv und nachhaltig ist (vgl. Kommuniqué des G20-Treffens in Hangzhou, 5. September 2016). Wie aus dem Arbeitsprogramm des Gipfels ersichtlich wird, sind diese Bemühungen untrennbar mit der Aufmerksamkeit verbunden, die den gegenwärtigen Konflikten und dem weltweiten Migrationsproblem gewidmet wird.

Im Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium, der Programmschrift meines Pontifikats an die katholischen Gläubigen, habe ich vier Handlungsprinzipien für den Aufbau brüderlicher, gerechter und friedlicher Gesellschaften vorgeschlagen: die Zeit ist mehr wert als der Raum; die Einheit wirkt mehr als der Konflikt; die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee und das Ganze ist dem Teil übergeordnet. Diese Handlungslinien gehören freilich der jahrhundertealten Weisheit der ganzen Menschheit an, und deshalb glaube ich, dass sie auch als Beitrag zu den Überlegungen für das Treffen in Hamburg und ebenso zur Bewertung seiner Ergebnisse nützlich sein können.

Die Zeit ist mehr wert als der Raum. Der Ernst, die Vielschichtigkeit und die wechselseitige Verbindung der weltweiten Probleme sind solcher Art, dass es für sie keine unmittelbaren und vollkommen zufriedenstellenden Lösungen gibt. Leider ist die Flüchtlingskrise, die vom Problem der Armut nicht zu trennen ist und durch bewaffnete Konflikte verschärft wird, ein Beweis dafür. Es ist hingegen möglich, Prozesse in Bewegung zu setzen, welche fortschreitende und nicht traumatisierende Lösungen bieten, die in verhältnismäßig kurzer Zeit zu einem freien Durchzug und zur Ansiedelung von Personen führen, was für alle von Vorteil ist. Diese Spannung zwischen Raum und Zeit, zwischen Begrenzung und Fülle erfordert jedoch eine genau gegensätzliche Bewegung im Denken der Regierenden und der Mächtigen. Eine wirksame Lösung, die sich notwendigerweise über einen Zeitraum erstreckt, wird nur möglich sein, wenn das Endziel des Prozesses bei seiner Planung klar vorgegeben ist. Es ist daher notwendig, dass im Verstand und im Herzen der Regierenden wie auch in jeder Phase der Umsetzung politischer Maßnahmen den Armen, den Flüchtlingen, den Leidenden, den Vertriebenen und den Ausgeschlossenen – ohne Unterschied von Nation, Volkszugehörigkeit, Religion oder Kultur – absoluter Vorrang eingeräumt wird und ebenso bewaffnete Konflikte abgelehnt werden.

An dieser Stelle kann ich nicht umhin, an die Staats- und Regierungschefs der G20 und an die ganze Weltgemeinschaft einen eindringlichen Appell zu richten hinsichtlich der tragischen Situation des Südsudans, des Tschadseebeckens, des Horns von Afrika und des Jemen, wo es dreißig Millionen Menschen gibt, die keine Nahrung und kein Wasser zum Überleben haben. Die dringende Aufgabe, sich diesen Situationen zu stellen und jenen Völkern unmittelbare Unterstützung zu geben, stellt ein Zeichen der Ernsthaftigkeit und der Aufrichtigkeit der Verpflichtung dar, mittelfristig die Weltwirtschaft zu reformieren. Zugleich ist es eine Gewähr für ihre gesunde Entwicklung.

Die Einheit wiegt mehr als der Konflikt. Die Geschichte der Menschheit stellt uns auch in unseren Tagen ein breites Panorama von aktuellen oder potentiellen Konflikten vor Augen. Der Krieg ist hingegen nie eine Lösung. In zeitlicher Nähe zum hundertsten Jahrestag der Friedensnote Benedikts XV. an die Oberhäupter der kriegführenden Völker liegt es mir am Herzen, die Welt zu bitten, so vielen „unnützen Blutbädern“ ein Ende zu setzen. Das Ziel des G20-Gipfels und anderer ähnlicher jährlicher Treffen besteht darin, die wirtschaftlichen Differenzen friedlich zu lösen und gemeinsame Finanz- und Handelsregeln zu finden, die die integrale Entwicklung aller erlauben, um die Agenda 2030 und die Ziele einer nachhaltigen Entwicklung zu erfüllen (vgl. Kommuniqué des G20-Treffens in Hangzhou). Dies wird jedoch nicht möglich sein, solange sich nicht alle Seiten dafür einsetzen, die Konfliktebenen wesentlich zu vermindern, den gegenwärtigen Rüstungswettstreit zu stoppen und auf eine unmittelbare oder mittelbare Beteiligung an den Konflikten zu verzichten als auch sich zu einigen, auf ehrliche und transparente Weise über alle Meinungsverschiedenheiten zu diskutieren. Es besteht ein tragischer Widerspruch und eine Inkonsequenz zwischen der scheinbaren Einheit in gemeinsamen Foren zu wirtschaftlichen oder sozialen Themen einerseits und der aktiven oder passiven Zustimmung zu kriegerischen Auseinandersetzungen andererseits.

Die Wirklichkeit ist wichtiger als die Idee. Die verhängnisvollen Ideologien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind durch neue Ideologien der absoluten Autonomie der Märkte und der Finanzspekulation ersetzt worden (vgl. Evangelii gaudium, 56). Diese hinterlassen eine schmerzliche Spur des Ausschlusses, des Wegwerfens und sogar des Todes. Die bedeutenden politischen und wirtschaftlichen Erfolge des letzten Jahrhunderts waren hingegen immer von einem gesunden und klugen Pragmatismus geprägt. Dieser war von der Vorrangstellung des Menschen geleitet wie auch vom Bestreben, auf der Grundlage der Achtung des einzelnen und aller Bürger verschiedene und zuweilen gegensätzliche Wirklichkeiten zu integrieren und aufeinander abzustimmen. So bitte ich Gott, dass der Hamburger Gipfel durch das Beispiel jener Verantwortungsträger in Europa und der Welt inspiriert werde, die dem Dialog und der Suche nach gemeinsamen Lösungen durchweg den Vorzug gegeben haben: Schuman, De Gasperi, Adenauer, Monnet und viele andere.

Das Ganze ist dem Teil übergeordnet. Die Probleme werden im Konkreten und mit der ihren Besonderheiten geschuldeten Aufmerksamkeit gelöst. Solche Lösungen dürfen aber, um von Dauer zu sein, niemals die Gesamtsicht außer Acht lassen. Zugleich müssen sie mögliche Auswirkungen auf alle Länder und deren Bürger abwägen wie auch deren Ansichten und Meinungen respektieren. Hier möchte ich die Mahnung aufgreifen, die Benedikt XVI. an den Londoner G20-Gipfel im Jahr 2009 richtete. Auch wenn es vernünftig ist, dass die G20-Gipfel sich auf die geringe Zahl der Länder beschränken, die 90% der Produktion von Gütern und Dienstleistungen weltweit stellen, so muss genau diese Situation die Teilnehmer zu einer vertieften Reflexion bewegen. Die Staaten und Menschen, deren Stimme auf der weltpolitischen Bühne am wenigsten Gewicht zukommt, sind gerade diejenigen, die am meisten unter den unheilvollen Folgen der Wirtschaftskrisen leiden, für die sie kaum oder keine Verantwortung tragen. Zugleich ist jene große Mehrheit, die wirtschaftlich betrachtet nur 10% des Ganzen ausmacht, jener Teil der Menschheit, der das höchste Potential hätte, um zum Fortschritt aller beizutragen. Somit ist es nötig, immer auf die Vereinten Nationen, auf ihre Programme und Agenturen wie auch auf die regionalen Organisationen Bezug zu nehmen; es ist nötig, internationale Verträge zu achten und einzuhalten sowie die multilateralen Beziehungen weiter zu fördern, damit die Lösungen wirklich universal und dauerhaft zum Wohl aller sein können (vgl. Benedikt XVI., Schreiben an den Britischen Premierminister Gordon Brown, 30. März 2009).

Ich lege diese Überlegungen als Beitrag zu den Arbeiten des G20-Gipfels vor im Vertrauen auf den Geist verantwortungsbewusster Solidarität, der alle Teilnehmer leitet. Ich erbitte dem Hamburger Gipfeltreffen Gottes Segen wie auch allen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, eine neue Ära einer innovativen, wechselseitig verbundenen, nachhaltigen, umweltfreundlichen und alle Völker und Menschen einschließenden Entwicklung zu gestalten (vgl. Kommuniqué des G20-Treffens in Hangzhou, 5. September 2016).

Gerne nehme ich die Gelegenheit wahr und versichere Eurer Exzellenz meine Hochachtung und Wertschätzung.

Aus dem Vatikan, am 29. Juni 2017

FRANZISKUS