Ein wunder Punkt für die Kirche
Am 26. Juli beginnt in Melbourne das Missbrauchverfahren gegen den australischen Kurienkardinal George Pell. Die genauen Details der Anklage sind noch nicht bekannt. Für die Dauer des Verfahrens wurde Pell von Papst Franziskus von seinem Posten als Finanzminister des Vatikan freigestellt. Im australischen Missbrauchsskandal spielt der 76-Jährige eine zentrale Rolle: sowohl als Kämpfer gegen Missbrauch wie auch als jemand, der als Priester im Bistum Ballarat an der Vertuschung entsprechender Fälle beteiligt gewesen sein soll.
Blaues Hemd, beige Hose, die Beine lässig übereinander geschlagen - so sitzt Pell in einem Cafe in Singapur. Obwohl in Zivil und fern der Heimat, wurde der hochrangige katholische Geistliche von einem Passanten erkannt, gefilmt und angesprochen. "Ich habe gerade meine Mutter angerufen. Sie sagt, ich soll Sie fragen, ob Sie unschuldig sind", ruft der Passant Pell in dem Internetvideo zu. Der antwortet gewohnt jovial: "Sagen Sie Ihr, ich bin unschuldig."
Der Kardinal hatte am 6. Juli auf dem Weg von Rom zu seiner Gerichtsverhandlung in Melbourne eine Pause in Singapur eingelegt. Zu seiner Aussage vor der staatlichen Missbrauchskommission im Februar 2016 war er aus Rom per Video zugeschaltet worden, weil ihm seine Ärzte aus gesundheitlichen Gründen von der 21-stündigen Reise nach Australien abgeraten hatten. Auch der polizeilichen Vorladung zur Vernehmung in Melbourne konnte Pell im Herbst nicht Folge leisten. Die Ermittler flogen stattdessen nach Rom.
Immer eine kontroverse Persönlichkeit
Die Opfer waren außer sich über Pells Absagen, sich in Australien persönlich den Fragen der Missbrauchskommission, der Polizei und der Betroffenen zu stellen. Umso größer nun die Erleichterung, dass sich der Kardinal, der einst eine Zukunft als Rugby-Profi gegen eine Kirchenkarriere eintauschte, nicht dem Gerichtsverfahren entzieht. "Wir hätten nie geglaubt, dass dieser Tag mal kommen wird", lautet der einheitliche Tenor von Missbrauchsopfern in den Sozialen Netzwerken. Die Kirche hingegen hält sich mit Stellungnahmen zurück - unter Verweis auf das "laufende Verfahren" und den juristischen Grundsatz der Unschuldsvermutung.
"Pell war immer eine kontroverse Persönlichkeit, und das genießt er auch", sagt Neil Ormerod, Professor für Theologie an der Katholischen Universität von Australien. Ob Abtreibung, Homo-Ehe, Klimawandel - Pell sei immer ein sehr konservativer "Kulturkrieger" gewesen. Das Verfahren gegen ihn werde sich zwei, drei Jahre hinziehen und solange, so Ormerod, "ein wunder Punkt" für die Kirche sein.
Linktipp: Der Furchtlose
Kardinal George Pell gehört zu den Mächtigsten der Kirche. Er ist Finanzchef des Vatikan und enger Berater des Papstes. Doch bis heute bleibt ein entscheidender Punkt seiner Vergangenheit im Dunkeln. (Artikel von Juni 2016)Der Missbrauchsskandal hat der katholischen Kirche wie auch den anderen christlichen Konfessionen Australiens schweren Schaden zugefügt. Laut den jüngst veröffentlichten Daten der Volkszählung 2016 erlitten die großen Konfessionen seit der Zählung 2011 einen weiteren Mitgliederschwund. "Die Katholiken sind mit 23 Prozent die größte religiöse und zudem die am weitesten institutionalisierte religiöse Gruppe und dadurch sehr einflussreich. Aber es gibt eine große Entfremdung zwischen der Kirchenhierarchie und den gewöhnlichen Katholiken", weiß Gary Bouma, anglikanischer Soziologieprofessor an der Monash-Universität Melbourne.
Pells entspannten Cafe-Aufenthalt in Singapur empfanden viele Australier als eine weitere Provokation des Hünen aus Ballarat, jenem Städtchen und Bistum nahe Melbourne, das sich als Epizentrum des Skandals herausstellte. "Pell ist sehr kalt", findet Ormerod. "Im Missbrauchsskandal hat er immer als Vertreter der Institution Kirche gehandelt, nie als Seelsorger. Er hat nicht den Hauch einer Ahnung, wie er mit Betroffenen umgehen soll."
In seiner Zeit als Erzbischof von Melbourne und später von Sydney inszenierte sich Pell - zum Ärger der meisten seiner Bischofskollegen - als Führer der katholischen Kirche in Australien; er polarisierte mit konservativen Standpunkten zu Politik, Gesellschaft, Medien und Laien in der Kirche. "So einer hat Feinde", sagt Ormerod. "Es gibt viele Vorverurteilungen. Das macht die Zusammenstellung einer Jury kompliziert. Das Verfahren wird sehr schwierig werden."