Einblicke in eine inklusive Kindertagesstätte

Die Vielfalt in Gefahr

Veröffentlicht am 05.08.2014 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 5 MINUTEN
Inklusion

Bonn ‐ Konstantins Geburtstagskuchen in Form einer großen "5" zieht begeisterte Blicke auf sich, als er im Morgenkreis des katholischen Sonja-Kill-Kindergartens die Runde macht. Jedes Kind bekommt ein Stück, verziert mit Schokoguss und Gummibärchen. Aufregende Monate liegen hinter den Kindern im ersten inklusiven Kindergarten Deutschlands. Im Januar 2014 zogen die drei Gruppen in den barrierefreien Neubau in Bonn-Bad Godesberg ein.

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45 Kinder zwischen vier Monaten und sechs Jahren, darunter zwölf mit Förderbedarf, werden hier von 14 Erziehern und Therapeuten betreut. Wie bei integrativen Einrichtungen gibt es hier Kinder mit und ohne Behinderung . Bei der Integration geht es darum, Jungen und Mädchen mit Behinderung in die Gruppe einzubeziehen und Ausgrenzungen zu vermeiden. Inklusion geht einen Schritt weiter und macht keinen Unterschied mehr zwischen behindert und nicht behindert, sondern sieht alle Kinder mit ihren individuellen Stärken und Schwächen.

Therapeuten und Erzieher sind überall präsent

"Im integrativen Kindergarten ist es zum Beispiel so, dass Kinder mit Förderbedarf zur Logopädie geholt werden", erklärt Kindergartenkoordinatorin Sonja Velten von der Bürgerstiftung Rheinviertel. Dabei würden sie immer wieder aus der Gruppe und aus ihrem Spiel herausgerissen. Im Sonja-Kill-Kindergarten dagegen sind Therapeuten genau wie Erzieher überall präsent, setzen sich zu den Kindern, organisieren Turnstunden oder beraten die pädagogischen Fachkräfte.

"Wir haben hier ein offenes Konzept", erklärt Velten. Die Kinder entscheiden also selbst, was sie machen möchten. "Wir nennen das Entdeckerzeit: Erzieher und Therapeuten bieten Aktivitäten an und die Kinder wählen aus, an welchen sie teilnehmen möchten", erklärt die Heilpädagogin. Ob sie nun Malen und Basteln, mit Wasser spielen, ein Theaterstück aufführen oder im geistlichen Zimmer an Kinderexerzitien teilnehmen, bleibt ihrer Laune und Tagesform überlassen.

Velten: Das Raumkonzept ist wichtig

Im Essbereich sitzt eine Logopädin mit einem kleinen Jungen am weißlackierten Klavier und ermuntert ihn, in die Tasten zu hauen. Die Physiotherapeutin geht derweil vor einem blondgelockten Mädchen in die Hocke: "Na, bist du heute bockig?" Kurz darauf kuschelt die Kleine in einem Schaukelsack und ruht sich aus.

"Schaukeln hängen hier überall an den Deckenbalken", erklärt Sonja Velten. "Auf diese Weise können die Kinder den ganzen Tag ihren Gleichgewichtssinn trainieren." Überhaupt ist die Einrichtung der zweistöckigen Kita genau durchdacht. "Wir sprechen beim Raumkonzept vom dritten Erzieher". Selbst die Böden sind nicht dem Zufall überlassen. Im Bauraum gibt es genug Platz, um ganze Städte aus Holz zu bauen und in der lichtdurchfluteten Turnhalle ist das Fenster in Kinderblick-Höhe angebracht. Dazu gibt es Glastüren, die die Halle mit dem Kita-Spielplatz verbinden. In den großen Gruppenräumen dominieren zimmerhohe Kletterlandschaften.

„Im Moment können wir nichts anderes tun, als abzuwarten, wie sich die Situation weiter entwickelt.“

—  Zitat: Sonja Velten, Kindergartenkoordinatorin

Getragen wird das alles von der Bürgerstiftung Rheinviertel. 1,7 Millionen Euro brachte die Stiftung mit Hilfe von Förderern für den Neubau zusammen, darunter die Aktion Mensch, die Stiftung Wohlfahrtspflege und die Sonja-Kill-Stiftung, die dem Kindergarten den Namen gibt.

Ab 2015 soll jedes Kind mit einer Behinderung jede Kita besuchen können

Auch wenn das Projekt ein voller Erfolg ist, hat Kita-Leiterin Sonja Aengenvoort Sorgen. Denn nach den Sommerferien stehen gravierende Veränderungen an. Sonja Velten erklärt: "Der Landschaftsverband Rheinland, Träger der Behindertenhilfe in Nordrhein-Westfalen, hat ein neues Fördersystem eingeführt. Ab dem Kindergartenjahr 2014/15 soll jedes Kind mit Behinderung jede Kita besuchen können." Ziel ist, Kinder an ihrem Wohnort zu betreuen und zu therapieren, die bisher kilometerweit bis zu ihrer Einrichtung oder ihrem Förderzentrum fahren mussten.

"Eigentlich eine gute Idee, das Problem ist jedoch, dass die Umstellung viel zu schnell erfolgt", so Velten. Einerseits müssen nun Kindergärten ohne Erfahrung und Ausstattung Kinder mit Behinderung aufnehmen und sich schnellstmöglich mit Frühförderstellen und ortsansässigen Therapeuten vernetzen. Andererseits stehen Einrichtungen wie der Sonja-Kill-Kindergarten demnächst vor der Frage, wie sie angestellte Therapeuten weiter beschäftigen soll. Denn diese werden ab Sommer 2015 nicht mehr finanziert.

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Video: © DRSMedia

Wie Inklusion an einer Schule im bistum Rottenburg-Stuttgart funktioniert

Die Ruhe vor dem Sturm

"Wenn das die Krankenkassen künftig nicht übernehmen, werden wir nächstes Jahr Therapeuten entlassen müssen", seufzt Aengenvoort. Damit würde der inklusive Gedanke, Förderangebote in den Kita-Alltag aller Kinder einzugliedern, hinfällig. "Außerdem steigt in dem Fall auch wieder der Abstimmungsbedarf mit externen Physiotherapeuten und Logopäden", sagt Velten mit Blick auf die künftige Praxis. Und es sei auch nicht immer einfach, Therapeuten zu finden, die zum Konzept der Kita passen.

Wenn es um solche Fragen geht, ist für die Kindergärten in Bonn Bad-Godesberg der Beratungs- und Förderdienst der Bürgerstiftung Rheinviertel ein Segen. Mittlerweile werden in dem Stadtteil 14 Einrichtungen von den heilpädagogischen und therapeutischen Fachkräften unterstützt. "Solche Förderdienste könnten auch andernorts den Kindergärten helfen, sich auf die neue Herausforderung einzustellen, die mit der Betreuung von Kindern mit Förderbedarf auf sie zukommt", erklärt Velten.

"Im Moment können wir nichts anderes tun, als abzuwarten, wie sich die Situation weiter entwickelt. Es ist so ein bisschen die Ruhe vor dem Sturm", sagt sie abschließend und blickt versonnen nach draußen, wo die Kinder den Kita-Spielplatz unsicher machen. Es ist eine bunte Schar: Jungen und Mädchen, Laufradfahrer und Puppeneltern, ruhige und lautstarke, mit europäischem, arabischem oder afrikanischem Hintergrund. Mit Behinderung oder ohne? Das spielt im inklusiven Sonja-Kill-Kindergarten keine Rolle.

Von Janina Mogendorf

Die Bürgerstiftung Rheinviertel

Die Bürgerstiftung Rheinviertel ist eine gemeinnützige kirchliche Stiftung mit Sitz in Bonn-Bad Godesberg. Sie ist die erste Stiftung ihrer Art in Deutschland, die ursprünglich kirchenfinanzierte Einrichtungen privat weiterfinanziert und ausbaut, sowie neue Projekte entwickelt. Neben der Sonja-Kill-Kita unterstützt und trägt die Bürgerstiftung weitere Kindertagesstätten, ein Familienzentrum, eine Akademie und den therapeutischen Beratungs- und Förderdienst der Kitas. Weitere soziale Förderbereiche sind die Jugendarbeit, die Ehrenamts-Koordination und die Hospizarbeit.