Das Schweigen der Alten von morgen
"Guten Morgen Frau Baarß, haben Sie gut geschlafen? Jetzt geht's ans Waschen". Per Knopfdruck fährt die Pflegerin das klobige Holzbett auf eine geeignete Höhe. Dann beginnt für beide eine mühevolle Prozedur: "Einmal den Kopf anheben", "einmal zur Seite drehen", "einmal das Nachthemd ausziehen", "noch das Gesäß". Jede Bewegung erfordert Absprache, dauert seine Zeit. Waschen, Windelwechseln, Eincremen mit Bodylotion, Desodorieren, Anziehen, alles geschieht, während die alte Dame noch liegt. Auch die Schuhe werden ihr in der Horizontalen an die Füße gezogen. Dann langsames Aufrichten. Macht der Kreislauf das mit? In den Rollstuhl setzen, Haare bürsten.
Was ist das eigentlich für ein aufdringliches Piepen? Alle zehn Sekunden ertönt aus einem Kasten an der Wand ein kurzes schrilles Geräusch. Weil es ihren Arbeitsalltag stetig begleitet, nimmt Pflegerin Saßenbach es schon gar nicht mehr wahr: "Wenn ich länger in einem Zimmer zu tun habe, schalte ich das Gerät an, damit ich mit den Kollegen in Kontakt bleiben kann. Das piepst jetzt, weil in irgendeinem anderen Raum gerade jemand etwas möchte."
Wird es mir später einmal genauso ergehen?
Wie empfindet es wohl Frau Baarß, dieses technische Geräusch inmitten der intimen Morgentoilette? Gut zwanzig Minuten nach dem ersten Eindruck wirkt sie nun, aufrecht im Rollstuhl, würdevoller und weniger zerbrechlich. Sie trägt einen kleidsamen fliederfarbenen Pullover, die Haare sind frisiert. Fragen kann ich sie trotzdem nicht – ihre Demenz macht ein Interview unmöglich. Aus ihrer Mine lässt sich nichts herauslesen. Aus ihrem Zimmer ein wenig mehr: Mitgebrachte Möbelstücke und Familienfotos künden von dem selbstbestimmten Leben, das die Bewohnerin einmal hatte.
Nun scheint sie auf starre Mimik und enorme Hilfsbedürftigkeit reduziert. Wird es mir genauso ergehen? Werde ich darauf angewiesen sein, dass man mich an- und auszieht, wäscht und zur Toilette bringt? Wird meine Sprache versiegen, mein Geist kein Hilfsmittel mehr sein beim Bestehen des Alltags? Aber es wird ja noch lange dauern, bis ich so alt bin. Und vielleicht kommt es ja gar nicht so schlimm. Vielleicht bleibe ich wach und rege bis zum Schluss. So wie auf den Illustrierten-Fotos: Silbrig ergraute Senioren stellen ihre Elektrofahrräder ab und breiten karierte Picknickdecken am Flussufer aus.
Unser Unbehagen zementiert die Missstände
Die Möglichkeit, zum Pflegefall zu werden ist ein Un-Thema in unserer Gesellschaft. Jeden kann sie betreffen, niemand möchte darüber nachdenken, geschweige denn reden. Eigentlich müsste es ganz anders sein. Schon jetzt ist das Angewiesen-Sein auf Hilfe für über zweieinhalb Millionen Menschen Realität, Schätzungen erwarten einen Zuwachs von 500.000 Pflegebedürftigen alle zehn Jahre. Mit dem Anwachsen dieser Gruppe werden sich die Zeit-, Aufmerksamkeits-, Personal- und Finanz-Lücken in den Pflegeheimen stetig erhöhen. Und die ungeheuren Summen, die im Spiel sind, wenn es um die Versorgung von Männern und Frauen der Pflegeklasse drei geht. Im Jahr 2011 waren das in jedem Monat mehr als 885 Millionen.
Solche Ausmaße verlocken Entscheider dazu, Pflegeleistungen in erster Linie wirtschaftlich zu betrachten, als etwas, das man strukturiert und 'optimiert', auf Synergie-Effekte hin durchleuchtet. Für Pflegekritiker Claus Fussek ist das gesamte System falsch aufgesetzt. "Seit Jahrzehnten schieben wir doch einen perversen und folgenreichen Fehler immer weiter vor uns her: Statt dafür zu sorgen, dass die Menschen möglichst lange beweglich und selbstbestimmt bleiben, belohnen wir noch die Folgen schlechter Pflege. Ein Heim, das seine Bewohner mit Physiotherapeuten und Ergotherapeuten mobilisiert, wird finanziell schlechter bedacht als eins, das sie ruhigstellt und in die Betten bringt."
„Das Zwischenmenschliche ist in der Pflege nicht vorgesehen.“
Eine Fehlentwicklung, die Cornelia Schultz (siehe Video-Interview) nach mehr als dreißig Jahren Pflegetätigkeit dazu brachte, ihren Beruf enttäuscht aufzugeben. "Mit der Pflegereform von 1995 mussten wir anfangen, die Betreuung genauestens zu dokumentieren und in Minuten zu bemessen, jede Leistung musste in ein Nützlichkeits-Raster passen, das wurde unerträglich." Frustriert kommt sie zu dem Schluss: "Das Zwischenmenschliche ist in der Pflege nicht vorgesehen."
Im Hennefer Caritas-Altenzentrum Helenenstift wohnen außer Frau Baarß noch 123 andere Senioren. Längst nicht alle brauchen so viel Pflege wie die demente Dame, sondern gestalten ihre Tage mit einer gewissen Eigenständigkeit. Doch auch für sie wird der Aufenthalt nicht durch Versorgung, sondern durch Zuwendung lebenswert. Leiterin Adelheid Paas bemüht sich, die Dienstpläne mit Spielraum zu versehen. Organisatorische Zwänge kennt sie trotzdem zu Genüge: "Meine Mitarbeiter befinden sich oft im Spagat: Einerseits Zeitdruck zu haben und ihn andererseits die Bewohner nicht spüren zu lassen.
Die ehemalige Altenpflegerin Cornelia Schultz spricht mit katholisch.de über Missstände in der Altenpflege.
Wenn Sie die Pflegekräfte hier fragen, ob sie genug Zeit für die alten Menschen haben, werden Sie immer ein 'Nein' hören. Jeder würde sich gerne intensiver kümmern." Von der geplanten Pflegereform 2015 , dem "fünften Gesetz zur Änderung des Elften Sozialgesetzbuches" erhofft sich Paas Erleichterung, weil die bürokratischen Dokumentationspflichten zurückgefahren werden sollen. Drängender aber findet sie eine Anpassung des "Pflegeschlüssels", der für die Einrichtungen verbindlich festlegt, auf wie viele Pflegebedürftige wie viele Vollzeitkräfte kommen.
Seit 1996 ist dieser Schlüssel unverändert – ganz anders als die Zahl der Demenzkranken in den Einrichtungen, die seit zwanzig Jahren zunimmt und zunimmt. Paas: "Bei der Bestimmung des Pflegebedarfs liegt der Fokus im Moment noch auf rein mechanischen Betrachtungen, zum Beispiel: kann die Person sich alleine waschen oder kann sie es nicht? Bei einer halbseitig gelähmten Seniorin ist das eine klare Sache – sie kann es nicht. Wenn sie dement ist, kann sie es von ihrer Beweglichkeit her vielleicht auch – aber sie vergisst es schlicht. Dann müssen wir ihr helfen, daran zu denken. Und auch das erfordert Zeit."
Die Lücke zwischen Anspruch und Realität wird immer größer
Personalmangel bedeutet Zeitmangel und Mangel an pflegerischer Befähigung. Aus ihm entspringen viele der erschütternden Missstände, die im Zusammenhang mit der Altenpflege in regelmäßigen Abständen ans Licht kommen und genauso regelmäßig wieder verdrängt werden: Herabwürdigendes Verhalten, Vernachlässigung, Fixierung, Ruhigstellung durch Medikamente, Gewaltanwendung. Auch viele Burn-Outs von Pflegenden lassen sich auf den wachsenden Kontrast zwischen dem Wünschenswerten und der Realität zurückführen.
In einer Studie der Bonner Universität aus dem Jahr 2003 äußerten sich 100 Pflegende und leitende Angestellte zu ihren Vorstellungen vom eigenen späteren Alter. 60 von ihnen gaben an, freiwillig niemals in ein Pflegeheim gehen zu wollen. Claus Fussek: "Wenn wir ehrlich wären, müssten wir endlich zugeben, dass unser System längst kollabiert ist. Doch in Wahrheit will das niemand wissen – die Politik nicht und auch nicht die Angehörigen. Denn die sind froh, dass sich jetzt jemand anderes 'kümmert'. Und die Pflegebranche verdient ihr Geld."
"Auch in den Familien ist das Thema Pflegebedürftigkeit inzwischen ein großes Vermeidungsthema geworden", stellt Diplompsychologin Petra Lang fest, "weil es durch das veränderte Miteinander und die gesellschaftliche Mobilität ja gar nicht mehr selbstverständlich ist, später von den eigenen Angehörigen gepflegt zu werden. Die wenigsten thematisieren es mit ihren Kindern, während sie noch gesund sind." Solange alle, die noch mitten im Leben stehen, Themen wie Hinfälligkeit und Pflegebedürftigkeit in die hinterste Ecke ihres Denkens und des gesellschaftlichen Diskurses schieben, haben die hilfsbedürftigen Alten keine Fürsprecher.
„Ein Heim, das seine Bewohner mit Physiotherapeuten und Ergotherapeuten mobilisiert, wird finanziell schlechter bedacht als eins, das sie ruhigstellt und in die Betten bringt.“
Mehr als dringend bräuchten sie die Solidarität der Alten von Morgen, doch als "Alter von Morgen" möchte niemand sich sehen. Nur gelegentliche Extreme dringen ins Bewusstsein. Solche, wie der Plan der Regensburger Juristin Susanne Moritz, dem Staat im Umgang mit seinen Pflegebedürftigen eine Schutzpflichtverletzung nachzuweisen, die unserer Verfassung widerspricht. In ihrem Thesenpapier schreibt sie: "Das Vorhandensein von, mitunter gravierende Ausmaße annehmenden, Missständen in zahlreichen stationären Pflegeeinrichtungen in Deutschland ist empirisch belegbar." Ex-Altenpflegerin Schultz wäre froh über die Aufmerksamkeit, die eine Verfassungsklage mit sich brächte: "Das Wichtigste überhaupt ist, das Schweigen über die Zustände auf Dauer zu brechen."
Im Helenenstift wird Mathilde Baarß nun im Rollstuhl über den Flur geschoben. Pflegerin Saßenbach überantwortet sie der Betreuerin im noch spärlich besetzen Gemeinschaftszimmer. Gutgelaunte Schlagermusik erklingt aus dem Radio in der Ecke. Hätte die alte Dame vielleicht Freude am fünfteiligen Holzpuzzle aus der Beschäftigungs-Kiste? Bald wird, wie jeden Donnerstag, ihr Sohn zu Besuch kommen - doch erkennen kann sie ihn nicht mehr.
Von Gerlind Schabert