Gemeinsames Lernen in einer Brandenburger Integrationsschule

Hürden offen ansprechen

Veröffentlicht am 10.10.2014 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Bild: © KNA
Inklusion

Berlin ‐ Konzentriert ist Oliver Blum im Mathe-Unterricht der 10. Klasse dabei. Seine Lehrerin gibt Hinweise zu den im kommenden Jahr anstehenden Prüfungen für den mittleren Schulabschluss. Er möchte sie unbedingt mitbekommen. Der 16-Jährige ist körperlich schwerbehindert und sitzt in einem E-Rolli. Im Unterricht hilft ihm ein Begleiter, "meine rechte Hand", so nennt der Schüler ihn und schmunzelt dabei.

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Oliver besucht die Regine-Hildebrandt-Schule in Birkenwerder bei Berlin. Es ist eine Integrationsschule zum Vorzeigen, die schon mehrere Preise gewonnen hat. Ursprünglich Förderschule, wurde sie nach der Wende mit einer Regelschule zusammengelegt. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten erwarb sich die Einrichtung einen guten Ruf weit über die Region hinaus. Längst kann sie nicht mehr jeden aufnehmen, der sich bewirbt.

Rund 750 Schüler besuchen die Schule derzeit, davon jeder Achte mit einem sogenannten sonderpädagogischem Förderbedarf. Leiterin ist seit knapp drei Jahren Kathrin Voigt. Sie ist vom Konzept des gemeinsamen Lernens überzeugt - bei allen Schwierigkeiten, die es auch in ihrer Einrichtung immer wieder gibt.

"Alle müssen mitziehen"

Etwa bei Kindern mit einer geistigen Behinderung. Je nach Schwere der Beeinträchtigung "stoßen wir da an unsere Grenzen", so Voigt. Da gelinge manche Stunde, manch' andere aber eben nicht. Grundvoraussetzung sei, dass Lehrer, Schüler und Eltern mitziehen und dass die baulichen und personellen Voraussetzungen stimmen. Oft bestreiten zwei Pädagogen den Unterricht.

Obwohl die Zahlen solcher Integrationsschulen steigen, sind sie bislang im Schulsystem doch die Ausnahme. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung lernen rund 75 Prozent der Schüler mit einem Förderbedarf in sogenannten Förder- oder Sonderschulen.

Nach dem Willen der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Verena Bentele, soll sich das ändern. Kinder in Förderschulen zu separieren, sei keine Inklusion, erklärte Bentele, die selbst blind ist, in einem Interview. Auf Dauer könne es keine Parallelstrukturen geben. Sie verweist auch auf die UN-Behindertenrechtskonvention , die die volle Teilhabe von behinderten Menschen in der Gesellschaft anstrebt.

Vater und Sohn mit Downs-Syndrom auf einem Motorrad
Bild: ©Andreas P/Fotolia.com

Mittendrin statt nur dabei: Inklusion

Andere - wie der Erziehungswissenschaftler Rainer Winkel - wollen nicht ganz so weit gehen. Sie sind für den Ausbau von Integrationsschulen, plädieren aber zugleich für die Beibehaltung der Förderschulen. "So viel Integration wie möglich und so viel Separation wie notwendig", fordert Winkel. Manches Kind mit Behinderungen sei in einer Regelschule einfach überfordert, befürchtet er.

Freundschaft kann man nicht verordnen

Und es gibt die soziale Komponente: Natürlich erlebe sie es, dass Schüler mit Behinderungen in den Pausen eher alleine dastünden und nachmittags keinen Besuch von Freunden hätten, erzählt Voigt. Das könne dann ein Grund sein, weshalb Eltern ihre Kinder wieder von der Schule abmeldeten. "Freundschaften kann ich nicht verordnen", sagt Voigt.

Bei Oliver ist das nicht der Fall. Mit drei seiner Mitschüler sitzt er in der Pause zusammen. Zwar habe es eine Weile gedauert, bis "wir aufgetaut sind". Aber jetzt gefalle es ihm in der Schule. "Wir sind hier auf einem guten Weg", meint er und fügt hinzu, Luft nach oben gebe es aber gleichwohl noch.

Wenn gemeinsamer Unterricht möglich ist, profitierten alle Schüler davon, auch die ohne Behinderungen, meint Voigt. Abiturienten bescheinigten ihr immer wieder, wie wichtig die dort gemachten Erfahrungen für sie seien.

Thema der derzeitigen Kultusministerkonferenz

Auch der Bundespräsident hat das Thema Inklusion, mit der sich auch die derzeit in Essen tagende Kultusministerkonferenz beschäftigt, auf seine Fahnen geschrieben: Sie sei eine der "anspruchsvollsten Emanzipationsprojekte unserer Zeit", meint Joachim Gauck. Er macht sich dafür stark, Hürden offen anzusprechen. Nur dann könne sie gelingen.

Wie Voigt, die erklärt, solange es Paralympics und Behindertenwerkstätten gebe, gebe es keine vollständige Teilhabe, denkt Gauck weit über das Thema Schule hinaus: Von einer inklusiven Gesellschaft könne man erst dann sprechen, wenn Menschen mit Behinderungen nicht mehr auf eine permanente Opferrolle festgelegt seien und eine echte Wahl hätten, wie sie ihr Leben gestalten.

Von Birgit Wilke (KNA)