"Angemessener Realismus"

Frage: Herr Wonka, das durchschnittliche Erstheiratsalter ist innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte um rund 4,5 Jahre angestiegen. Wie lässt sich dieser Trend erklären?
Wonka: Ein Grund sind sicher verlängerte Ausbildungszeiten. Auch lässt sich feststellen, dass die Zahl der sogenannten irregulären Arbeitsverhältnisse, etwa befristete Arbeitsverträge, in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat. Diese Entwicklung betrifft häufig junge Mitarbeiter. Andererseits fallen Eheschließung und Familiengründung für viele Paare zusammen, und das nehmen sie häufig erst dann in Angriff, wenn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine gewisse Sicherheit versprechen. Die Arbeitswelt spielt also eine entscheidende Rolle.
Markus Wonka leitet die Eheberatungsstelle im Bistum Münster.
Frage: Und jenseits dieser wirtschaftlichen Aspekte?
Wonka: Der Anteil der verheirateten Paare an den verpartnerten Gemeinschaften in Deutschland ist rückläufig. Er lag vor ein paar Jahren noch bei knapp 90 Prozent, inzwischen unter 70 Prozent. Es ist also nicht mehr ungewöhnlich, außerhalb einer Ehe zusammenzuleben. Paare fragen sich häufiger, wozu sie heiraten sollen. Viele entschließen sich zur Heirat, wenn die Familiengründung ansteht und sie ihre Zukunft rechtlich und finanziell absichern wollen. Außerdem bringt die Ehe heutzutage eine Form der Entschiedenheit füreinander zum Ausdruck. Mit diesem Ritual versprechen zwei Menschen einander ganz bewusst, ein Leben lang zusammen zu bleiben. Damit warten viele Paare, bis sie Erfahrungen mit dem Zusammenleben sammeln konnten - denn um diese Entscheidung zu treffen, möchten sie sich sicher sein.
Frage: Waren frühere Generationen mutiger, weil sie sich schneller "getraut" haben?
Wonka: Die Haltung der jetzigen Generation bezüglich der Ehe ist auch mit Skepsis verbuden, die Ausdruck eines angemessenen Realismus ist. Die Paare wissen, wie hoch die Scheidungsquote ist, und wer sich scheiden lässt, lernt das Scheidungsrecht kennen, was zumeist nicht nur angenehm ist. Dieses Wissen ist bei vielen jungen Menschen nicht nur theoretisch vorhanden, sondern sie haben das Scheitern der Ehen ihrer Eltern erlebt. Daher ist die Ehe für sie keine Selbstverständlichkeit, sondern sie gehen vielfach nüchterner an das Thema heran.
Frage: Liegt darin eine Chance für die Kirche?
Wonka: Ich würde mir wünschen, dass der Prozess, den die Bischofssynode in Rom angestoßen hat, weitergeht. Konkret: dass die Sensibilität wächst und dass genauer hingehört wird, was Paare heute überhaupt noch dazu bewegt, zu heiraten. Wenn ein Paar nicht einfach deswegen heiratet, weil es selbstverständlich ist, dann ist das ein Anknüpfungspunkt für Gespräche. Insofern ist diese Entwicklung durchaus eine Chance, die man nicht als moralischen Verfall oder ähnliches abtun sollte.
Frage: Ein anderes vieldiskutiertes Thema ist die Sprache der Kirche. Wie erklären Sie jungen Menschen das Sakrament der Ehe?
Wonka: Wenn ich mit jungen Paaren spreche, verzichte ich auf den Begriff des Sakraments. Damit verbinden viele Menschen überwiegend normative und moralische Vorstellungen: Man darf sich nicht scheiden lassen, man muss zusammen bleiben, man muss sich treu bleiben. Oder der Begriff wird gar nicht verstanden. Ich versuche eher zu erläutern, was damit eigentlich gemeint ist. Aus kirchlicher Sicht ist die Ehe nicht nur eine Institution, die man vor Gott oder vor dem Staat eingeht. Sie ist vielmehr eine Lebensform des Glaubens. Im Mittelpunkt steht die Erfahrung, dass die wechselseitige Liebe zwischen Frau und Mann ein konkreter Ort ist, wo Gott den Menschen nahe sein will und erfahren werden kann.
Das Interview führte Paula Konersmann (KNA)