Begegnungen ehrenamtlicher Hospizbegleiter des Malteser-Hilfsdienstes

"Ick habe Jott und die Welt jekannt"

Veröffentlicht am 09.11.2014 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Hospizbegleitung

Berlin ‐ Früher war Rainer Grothe Boxer. Mit 76 Jahren ist er immer noch ein eleganter Mann von Welt, auch nach zwei Chemotherapien wegen Lungenkrebs. Seine Geschichte ist eine von fünfzig über Begegnungen, die ehrenamtliche Hospizbegleiter des Malters-Hilfsdienstes aufgeschrieben haben. "Es tut so gut, mit dir zu sprechen" heißt die Anfang Oktober erschienene Sammlung.

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Die Idee zu der Geschichten-Sammlung kam von den Ehrenamtlichen selbst. Sie haben die Geschichten erzählt und aufgeschrieben. Viele von ihnen wollten anonym bleiben – wichtig war aber allen, dass ihre Geschichten nicht vergessen werden. Eine der Geschichten lesen Sie hier mit freundlicher Genehmigung des Malteser-Hilfsdienstes Berlin.

Bild: ©

Claudia Johanna Bauer/Thea Weis: Es tut so gut, mit dir zu sprechen – Begegnungen mit Sterbenden. Verlag be.bra, Berlin 2014.

Der Boxer

"Na, denn kommse mal rin in die jute Stube. Ick bin nämlich nich' nur schwach auf der Brust, sondern ooch uff de Beene." Rainer Grothe zwinkerte vergnügt. Er musterte mich – und nickte anerkennend.

Oha! Der hat's ja faustdick hinter den Ohren, dachte ich sofort. Mit sechsundsiebzig. Nach zwei Chemotherapien wegen Lungenkrebs. Je öller, je döller. Aber ich mochte sein Grinsen, seine vorwitzige Art. Kein Wunder, dass so einer von sich aus den Kontakt zum Hospizdienst gesucht hatte. Als passionierter Selbstdarsteller brauchte er sein Publikum.

"Ick war mal Boxer", erzählte er mir, "im selben Verein wie Bubi Scholz, daher meine eindrucksvolle Erscheinung." Er klopfte sich an die Brust. "Fliegenjewicht."

Ich musste lachen. Das gefiel ihm, und er warf sich ins Zeug.

"Sehnse mal, da unten, det is mein bestet Stück." Wir standen vor dem Wohnzimmerfenster, er deutete hinunter auf die Straße. "Der tieferjelegte Blaue mit dem großen Adler auf der Motorhaube. Jefällt er Ihnen?"

"Das ist Ihr Auto? Nicht schlecht!"

Vor allem passte es hervorragend zu dem Jeansanzug, den der Ex-Boxer heute trug - vermutlich extra meinetwegen. Um jugendlicher zu wirken.

Zufrieden mit sich und der Welt

"Ja, so'n schönet Jefährt hat nich jeder." Er nickte, zufrieden mit sich und der Welt. "Dazu 'ne schöne Frau - denn bin ick glücklich."

Sein verschmitztes Lächeln sorgte dafür, dass ich ihm nicht böse sein konnte, trotz der Machosprüche.

Als er beim Hospizdienst seine Begleitung anforderte, hatte er sofort seine Bedingungen aufgezählt: Nur eine Frau durfte es sein, und keinesfalls älter als fünfzig! Das wusste ich - und fand es nicht schlimm. Schließlich bin ich nicht auf den Mund gefallen.

"Ick habe mich ooch mal bei 'ner Heiratsvermittlung beworben", vertraute Rainer Grothe mir am späteren Nachmittag an. "Und wissense, wat die mir jeschickt haben? 'ne Siebzigjährige! Na, wat soll ick denn damit?!" Er streckte sich in Positur und strich die Jeansjacke glatt. "Nee, nee. Die Frau hab' ick gleich wieder nach Hause jeschickt. Seh' ick etwa aus wie siebzig?!" Er beugte sich vor, und seine strahlend blauen Augen fixierten mich. "Nu sagense mal!"

Ich musste schon wieder lachen. "Sechzig hätte ich Ihnen gegeben, keinen Tag mehr." Er sah ja tatsächlich gut aus, war schlank und hatte trotz der Chemo inzwischen wieder volles Haar.

"Na, sehnse!" Er nickte zufrieden. "Det is der Boxer in mir. Der hält einen jung."

Eine junge Hand hält eine alte Hand fest.
Bild: ©Natalia Bratslavsky/Fotolia.com

Trost geben, da sein.

Ich wusste inzwischen, dass er im zweiten Weltkrieg in Gefangenschaft geraten und dass der Traum von der Boxerkarriere danach ausgeträumt gewesen war. In der neu gegründeten DDR hatte er anfangs im Fleischkombinat gearbeitet. Danach reparierte er hunderte von Waschmaschinen, dreißig Jahre lang.

"Ick habe Jott und die Welt jekannt", versicherte er mir. "Ick hatte Verbindungen!" Ein bedeutsamer Blick, hochgezogene Brauen. "Et jab Zeiten, da hätt' ick Ihnen allet besorgen können!" Wieder dieses vertrauliche Zwinkern. "Und det ham die Hausfrauen in Anspruch jenommen. So'n Boxer, der is wendig!" Selbstbewusstes Nicken. "Ick kann Ihnen Jeschichten erzählen ..."

Unterhaltsame, vergnügliche Nachmittage

Und er erzählte. Immer charmant, witzig, unterhaltsam. Ich lauschte fasziniert, wir lachten sehr viel. Die Zeit verging wie im Flug, jeden Dienstagnachmittag von eins bis sechs.

"Mensch, könnse denn nich' öfter kommen? Vielleicht zweimal die Woche?" Er half mir in den Mantel und legte ganz beiläufig den Arm um meine Schultern. "Wär' doch schön. Wir unterhalten uns doch so jut ..."

Ich drehte mich aus der Umarmung und griff meine Tasche. "Ach nein, das lassen wir doch mal lieber."

Er schmunzelte. "Dacht' ick mir schon. Macht nüscht."

"Bis nächsten Dienstag." Ich nickte ihm zu.

Er hob den Zeigefinger. "Aber wennse jetzt runterjeh'n, denn machense mal recht viel Krach! Dann denken die Nachbarn, Sie wären meine Freundin." Da musste ich schon wieder lachen. Aber ich tat ihm den Gefallen und ließ die Absätze klappern.

„Das Leben ist ein Kreislauf. Es gibt Zeiten, in denen man gibt, und andere, in denen man nimmt ...“

—  Zitat: Ehrenamtliche Hospizbegleiterin

Ein anderes Mal fragte er mich plötzlich zwischen Tür und Angel: "Wat verdiense denn so bei dem Job?"

Ich war schon ein paar Stufen tiefer, drehte mich noch einmal um. "Nichts", sagte ich und zuckte die Achseln. "Das ist ehrenamtlich."

Er stand oben auf dem Treppenabsatz und hatte die Daumen lässig in die Hosentaschen eingehakt. "Na, Sie ham wohl beim lieben Jott wat jutzumachen?!"

"Wie man's nimmt", sagte ich. "Das Leben ist ein Kreislauf. Es gibt Zeiten, in denen man gibt, und andere, in denen man nimmt. So sehe ich das."

Jetzt nickte er nachdenklich. "Damit kann ick leben."

Dann nach einer kurzen Pause: "Wenn ick Ihnen nu aber wat schenken möchte?"

"Sie könnten etwas für die Malteser spenden", schlug ich vor.

"Na, aber da ham Sie doch nüscht von!", protestierte er. "Und sonst? Ick kann ja nur bis zum nächsten Supermarkt loofen, und die Blumen, die’s da jibt, die wollnse nich’ haben! Die wer’n inner Plastiktüte verkooft."

"Ich will gar nichts haben", versuchte ich ihn zu beruhigen. "Es macht mir Spaß, Sie zu besuchen. Ich tue das gern."

"Na, det weeß ick doch!" Jetzt kehrte das selbstbewusste Grinsen zurück. "Meine Jesellschaft is' Jold wert! Aber trotzdem. Ick muss mir doch ooch mal revanchieren."

Seitdem wollte er mir immer etwas Gutes tun.

Unerschütterlich optimistisch

Einmal spendierte er mir einen Ausflug ins "Rübezahl", einem Lokal am Müggelsee. Bis zu seinem "Jefährt" mit dem Adler auf der Haube gingen wir Arm in Arm. Er trug seinen Jeansanzug und hielt sich sehr gerade. Es war kaum zu merken, dass ich ihn stützen musste.

"Ick werde doch nich’ mit so’m Karren rumbollern, wenn ick mit ’ner kessen Biene unterwegs bin!" Gemeint war sein Rollator, mit dem er sich keinesfalls auf der Straße zeigen wollte.

Danach kutschierte er mich, und mir war ein bisschen unheimlich zumute. Aber es ging alles gut. Wir hatten einen vergnüglichen Nachmittag, saßen zusammen unter dem Sonnenschirm, und er erzählte mir, wie er im Krankenhaus nach der Chemo bereits im Sterben gelegen hatte. "Mensch, jing mir det schlecht! Aber denn kam diese Ärztin rein, 'ne junge, schöne Russin!" In seine Augen trat ein Strahlen. "Frau Doktor, hab' ick jesagt, ick habe mich eben in Sie verliebt. Und sie sagt: Wernse erstmal wieder jesund." Er schmunzelte. "Na, denn bin ick eben wieder jesund jeworden. Aber sie wollte leider trotzdem nüscht anfangen mit so'm ollen Boxer." Er schüttelte den Kopf, seufzte.

Natürlich war er nicht gesund, das wussten wir beide. Aber er klagte nie. Wenn ich ihn fragte: "Na, wie geht's Ihnen denn?", sagte er: "Wie soll's schon gehen? Ick bin jesund." Jedes Mal.

Nur die Sache mit dem Revanchieren ließ ihm keine Ruhe.

An einem unserer Dienstage, als ich gerade gehen wollte, hielt er mich am Arm fest. "Warten Se mal, ick habe endlich een jutes Jeschenk für Sie jefunden." Er langte ins Regal und überreichte mir ein sehr schmales Päckchen.

"Scheibenwischerblätter", las ich die Beschriftung vor.

"Jenau. Die passen bei Ihnen." Er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein. "Ick habe aus'm Fenster jeguckt und Sie ins Auto steigen sehen. Ick kenne Ihr'n Wagen. Die passen garantiert. Und es wird höchste Zeit, dass Se mal neue dran machen. Det janze Auto is' 'ne Katastrophe."

Da musste ich schon wieder lachen.

Bald darauf starb Rainer Grothe. Es ist jetzt schon einige Jahre her, und ich habe seitdem viele Menschen begleitet. Mein Auto habe ich inzwischen gewechselt. Aber immer, wenn es während der Fahrt regnet, lächle ich.

Zum Buch

"Der Boxer" ist eine von fünfzig Geschichten aus dem Buch "Es tut so gut, mit dir zu sprechen". Die Idee zum Buch hatten die ehrenamtlichen Hospizbegleiter der Berliner Malteser selbst: Sie erleben viel bei der Begleitung von Sterbenden, das nicht einfach vergessen werden soll. Das Buch erscheint zum richtigen Zeitpunkt: Der Ruf nach aktiver Sterbehilfe wird lauter, die Politik diskutiert konkrete Vorschläge. Die Geschichten der Hospizbegleiter zeigen, wie es anders gehen kann: Sehr unterschiedliche Begegnungen erzählen, was Würde am Lebensende bedeutet. Claudia Johanna Bauer/Thea Weis: Es tut so gut, mit dir zu sprechen – Begegnungen mit Sterbenden. Verlag be.bra, Berlin 2014, 9,95 Euro.