Eine Botschaft für den Bierdeckel
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Impuls von Schwester Charis Doepgen
Als ein Finanzpolitiker in der Debatte über Reformen die Idee brachte, die jährliche Steuererklärung sollte so schlank sein, dass sie auf einen Bierdeckel passt, war das ein hübscher Gag. Nun haben Steuern und Moral zwar viel miteinander zu tun, die religiöse Frage nach dem wichtigsten Gebot hat jedoch eine andere Dimension. Was aber beide Bereiche verbindet, ist der springende Punkt, dass Wichtiges kompakt und überschaubar sein soll.
Ob der Gesetzeslehrer aus dem Kreis der Pharisäer bei seiner Frage an Jesus daran ehrlich interessiert war? Wie Matthäus die Episode erzählt – im Unterschied zu Markus 12,28-34 –, ist Zweifel angebracht. Jesus soll auf die Probe gestellt werden. Die Anrede "Meister" bekommt dadurch einen ironischen Unterton. Die Antwort Jesu aber bleibt sachlich. Seine Abrechnung mit den Schriftgelehrten und Pharisäern steht im nächsten Kapitel (vgl. Mt 23, 1-39). Hier nimmt Jesus den zugespielten Ball an und zitiert aus der Tora seine Antwort. Für ihn steht das Gebot der Gottesliebe selbstverständlich an erster Stelle, aber die zweite Stelle liegt auf der gleichen Ebene. Nächstenliebe und Selbstliebe sind nicht weniger wichtig, weil sie in der Aufzählung auf Platz zwei stehen. Es geht um eine Liebe in dreifacher Gestalt; jede hat das gleiche Gewicht, zwischen ihnen gibt es kein entweder oder. Die heute übliche Rede vom Doppelgebot bringt das auf eine Formel. Das abschließende Wort im Evangelium, dass an Gottes- und Nächstenliebe "das ganze Gesetz samt den Propheten hängt", macht noch einmal das große Gewicht der jüdischen Gesetzesvorschriften deutlich. Da genügte es nicht, bis zwei zählen zu können – nein, 613 Vorschriften waren zu beachten. Gesetzesdenken dividiert und macht aus dem Einzig-Notwendigen das Vielerlei. Dabei geht Überblick verloren ohne dass Ein-Blick gewonnen wird. Die Frage nach den Prioritäten stellte sich also unweigerlich.
Die Auseinandersetzung mit dem Gesetz und der Freiheit des Evangeliums wird im Neuen Testament vor allem in den Paulusbriefen geführt. Sie gipfelt im Galaterbrief in dem Satz: "Das ganze Gesetz ist in einem Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!" (5,14) Wie kann Paulus hier einfach die Gottesliebe unerwähnt lassen? Die überwältigende Erfahrung, dass Gottes Liebe immer schon da ist – vor jeder Bekehrung –, drückt sich darin wohl aus. Wir können nur lieben aus dem starken Glauben, dass wir zuerst geliebt sind und von Gott bedingungslos angenommen mit allem, was wir an uns selbst oder an anderen oft so wenig liebenswert finden.
Augustinus, der die Kunst beherrschte, spirituelle Impulse aus dem Evangelium pointiert auszudrücken, formulierte: "Ama et fac quod vis" – Liebe und tu, was du willst. Das ist so etwas wie eine Ausführungsbestimmung für das erstwichtigste Gebot. – Sie würde auf einen Bierdeckel passen.
Evangelium nach Matthäus (Mt 22, 34-40)
In jener Zeit, als die Pharisäer hörten, dass Jesus die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, kamen sie bei ihm zusammen. Einer von ihnen, ein Gesetzeslehrer, wollte ihn auf die Probe stellen und fragte ihn: Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?
Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot.
Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten.