Wenn Vergebung unmöglich ist
Frage: Herr Wiesbrock, Sie sprechen als Gefängnisseelsorger regelmäßig mit Inhaftierten. Gibt es bei Gefangenen den Wunsch nach Vergebung?
Wiesbrock: Inhaftierte Menschen kommen mit vielen, sehr unterschiedlichen Wünschen zu mir ins Gespräch. Hinter vielen dieser Wünsche verbirgt sich häufig auch der Wunsch nach Vergebung, allerding oft genährt aus sehr unterschiedlichen Motiven: manchmal tief aus dem Herzen heraus; manchmal, um bestimmte Formen zu wahren oder auch für sich selbst eine Entschuldung zu suchen. Manchmal formulieren sie auch den Wunsch, Kontakt mit dem Opfer ihrer Straftat aufzunehmen.
Frage: Wie reagieren Sie auf diesen Wunsch?
Wiesbrock: Ich bin da sehr zurückhaltend und rate zunächst davon ab, dass die Inhaftierten direkt mit dem Opfer Kontakt aufnehmen. Denn das ist ziemlich kompliziert und hat nicht unbedingt Aussicht auf Erfolg: Es spielen so viele Dinge mit rein, wie Emotionen oder alte Konflikte, dass ein Treffen wahrscheinlich eher eine fürchterliche Enttäuschung für alle Beteiligten wäre.
Frage: Was soll der Täter denn stattdessen tun, wenn er nach Vergebung sucht?
Wiesbrock: Ich glaube, es ist wichtiger, dass sich die Täter zuerst damit auseinandersetzen, was sie getan haben. Sie müssen sich überlegen, wie sie damit umgehen wollen. Das ist eine große Aufgabe, für die man sich viel Zeit nehmen muss. Und das beginnt lange vor der Schuldfrage.
„Viele sind regelrecht entsetzt darüber, wozu sie in der Lage gewesen sind und leiden auch darunter“
Frage: Aber die Gefangenen sind doch verurteilt worden, weil sie für schuldig befunden worden sind.
Wiesbrock: Das ist die richtige Formulierung: Die Inhaftierten sind verurteilt worden, Ihnen ist also eine Schuld zugesprochen worden. Aber es gibt Menschen, die die Schuld erst einmal weit von sich weisen, etwa, weil sie sich der Situation nicht aussetzen wollen und ihre Tat auch vor sich selbst leugnen. Manche sind auch sehr darüber erschrocken, was sie mit ihrer Tat ausgelöst haben. Um die Schuldfrage und dann auch die nach der Vergebung zu klären, müssen sie sich zunächst erst einmal selbst verstehen. Sie müssen Verständnis dafür entwickeln, dass sie zu einer solchen Tat fähig waren und ihre Wirklichkeit anerkennen. Das ist ja etwas zutiefst Menschliches, dass, wenn man sich daneben benommen hat, erst im Nachhinein darüber erschrickt. Das ist bei Inhaftierten nicht anders: Viele sind regelrecht entsetzt darüber, wozu sie in der Lage gewesen sind und leiden auch darunter. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Inhaftierte, die hatte im Drogenwahn einer älteren Frau die Handtasche aus der Hand gerissen, um an das Geld zu kommen. Sie hat mir erzählt, dass sie abends nur schwer einschlafen kann, weil sie immer wieder das Schreien dieser Frau gehört hat.
Frage: Wie geht es dann weiter?
Wiesbrock: Das ist natürlich bei jedem unterschiedlich. Aber meist beginnt die Auseinandersetzung mit sich selbst mit der Frage, warum man etwas getan hat. Dann geht es darum, eine Möglichkeit zu entwickeln, sich selbst verzeihen zu können. Denn nur so kann man sich auch einräumen, dass man zu einer schrecklichen Tat fähig war. Wer diesen Schritt nicht macht, wird viele Aspekte verdrängen oder nicht wahr haben wollen. Aber Vergebung sich selbst gegenüber ist die Voraussetzung für alle weiteren Schritte. Erst dann kommt vielleicht das Nachdenken über den Schaden oder die Wiedergutmachung.
Frage: Geht das denn überhaupt, eine Straftat wiedergutzumachen?
Wiesbrock: Da bin ich sehr unsicher. Darüber hinaus finde ich solche Bemühungen hochgradig problematisch: Oft ist es eine Zumutung für das Opfer, denn das bedeutet ja, dass es wieder mit dem Täter Kontakt hat. In solchen Situationen kann es ganz schnell zu einer Retraumatisierung kommen. Es kommt schon mal vor, dass mir Inhaftierte sagen, dass sie gerne das Opfer kontaktieren würden. Aber da geht der Opferschutz vor. Es muss im Vorfeld geklärt werden, ob das Opfer daran überhaupt interessiert ist. Dieser Wunsch nach Vergebung und Wiedergutmachung kann darüber hinaus in den Augen des Opfers zynisch wirken. Denn jemand, der schreckliche Erlebnisse durchgemacht hat, den kann man nicht auffordern, zu vergeben. Vergebung wäre zwar das Ideal – so lehrt es ja auch die Bibel. Aber ich würde mich nicht trauen, ein Opfer dazu bewegen zu wollen.
Frage: Wiedergutmachung ist aber oft das, was viele von dem Täter fordern – neben der Bestrafung.
Wiesbrock: Ja, die Wiedergutmachung ist in der Öffentlichkeit ein wichtiges Thema, wenn es um Straftäter geht. Auch die verhängte Strafe wird von vielen so verstanden, dass sie für das Leid der Opfer eine Anerkennung sein soll. Aber, wie gesagt, manches lässt sich einfach nicht wiedergutmachen. Und manchmal ist die Vergebung durch das Opfer oder die Angehörigen auch gar nicht möglich, etwa weil sie den Kontakt ablehnen oder weil sie tot sind. Dann ist die einzige Möglichkeit für den Täter, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Das darf man nicht falsch verstehen: Es geht nicht darum, sich zu sagen, dass das alles nicht so schlimm war. Sondern die Täter müssen einen Weg zu finden, wie sie mit dieser Tat weiterleben können, wie sie akzeptieren können, dass diese schlimme Tat auch ein Teil ihrer Wirklichkeit ist.
Frage: Wie erleben Sie den Moment, wenn ein Inhaftierter Vergebung erfahren kann?
Wiesbrock: Ich begleite die Inhaftierten oft eine lange Zeit. Aber ob sich jemand letztlich vergeben kann, lässt sich nie vorhersagen. Manchmal gibt es tatsächlich solche Sternstunden, in denen ich beobachten kann: Derjenige kommt sich näher, er fängt an, sehr authentisch zu sein. Das ist richtig gut. Ich bin übrigens fest davon überzeugt, dass die Sehnsucht von Menschen nach Vergebung und ihr Umgang mit Schuld oder dem Schuldiggewordensein sich nicht unterscheidet im Blick auf Menschen vor und Menschen hinter Gefängnismauern. Vielleicht besteht eine menschliche Schwierigkeit tatsächlich darin, unsere Wirklichkeit anzuerkennen.
Frage: Wie begleiten Sie denn die Inhaftierten auf diesem Weg?
Wiesbrock: Die Inhaftierten kommen natürlich nicht zu mir und sagen: "Lass mal über meine Schuld reden." Wir kommen erst locker ins Gespräch, zum Beispiel bei einer Zigarette. Wenn die Inhaftierten mit mir sprechen, gibt es kein Protokoll, unser Gespräch hat keine Bedeutung für ihre Akte. Meine Aufgabe als Seelsorger ist, dass beide, also mein Gegenüber und auch ich, das Gefühl entwickeln können, dass wir so sein dürfen, wie wir sind. Ich verurteile sie nicht, sondern ich versuche sie zu verstehen. Insofern höre ich im Gespräch in erster Linie zu und frage aber auch nach, wenn mir Dinge in ihrer Erzählung auffallen. Ich begreife meine Rolle eigentlich eher als jemand, der dem Gegenüber seine Wahrnehmung zur Verfügung stellt, wie ein Spiegel. Dann entwickelt sich ein Gespräch, wo man sich gegenseitig entdeckt. Ein Verstehen tut sich auf. Ein festes Ziel gibt es nicht, schließlich bin ich kein Therapeut. Auch ich nehme übrigens viel aus den Gesprächen mit, ich entdecke meine eigenen Abgründe.
Frage: Inwiefern spielt bei diesen Gesprächen der Glaube eine Rolle?
Wiesbrock: Der Glaube ist in der Tat wichtig. Die Inhaftierten nehmen mich wahr als "Mann Gottes": Sie erleben mich im Gottesdienst in der JVA und hören, wie ich Gottes Botschaft verkünde. Aber die, die zu mir kommen, sind auf der Suche, im weitesten Sinne auch nach so etwas wie Gott. Sie sind religiös musikalisch und haben eine Hoffnung darauf, dass es irgendetwas geben möge, das alles wieder gut macht. Aber das sind oft sehr vage Glaubensformen, ich fände es schwierig, das einer Religion zuzuordnen. Mein Anliegen ist es, die Liebe Gottes erfahrbar zu machen. Vielleicht gelingt es mitunter im Kontakt zu mir im Gefängnis, in einem Raum voll Offenheit und Wohlwollen, einen vagen Hauch davon zu spüren, zu erleben und zu erfahren. In der Theologie habe ich gelernt, dass der Mensch gut ist. Das erfahre ich in meiner Arbeit auch immer wieder: Ich habe noch keinen abgrundtief schlechten Menschen im Knast entdecken können.