Es kann ganz schnell gehen
"Ich befürchte, mein Kind reist nach Syrien aus", so oder so ähnlich äußern sich verzweifelte Eltern, die vor den Türen des Beratungsbüros in Frankfurt-Bockenheim stehen. Sie haben beobachtet, wie sich ihr Kind verändert, sich zurückzieht. Vielleicht bekommen sie mit, wie es Videos von Hasspredigern im Internet ansieht. Verherrlichung von Gewalt und Schwarz-Weiß-Denken – Anzeichen von Radikalisierung. "Die kann schnell ablaufen", weiß Thomas Mücke, Leiter der hessischen Beratungsstelle. So melden sich bei ihm auch Eltern, deren Kind in ein Kriegsgebiet ausgereist ist.
Seit Oktober Kontakt zu 51 Frankfurter Familien
Mücke ist Politologe und Pädagoge vom Netzwerk Violence Prevention Network (VPN), Träger der Beratungsstelle. Für ihn ist das Problem der radikalisierten Ausreisenden eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. "Nicht nur Aufgabe der Sicherheitsbehörden", ist er überzeugt, "dazu gehören die sozialarbeitlichen Mittel von Nichtregierungsorganisationen."
Eine dringliche Aufgabe. In Frankfurt zeigt sich ein hoher Bedarf. Mückes Team ist dort seit Juli dieses Jahres im Einsatz. Im Oktober wurde das Büro eröffnet. "Seitdem haben wir Kontakt zu 51 Familien, arbeiten mit 21 Jugendlichen", so der Einrichtungsleiter. Darunter Syrienausreisewillige und zwei Jugendliche, die aus der radikalen Szene aussteigen wollen.
Prävention, Intervention, Ausstiegsbegleitung. Auf diese drei Pfeiler setzt die Beratungsstelle. Dazu gehören Schülerworkshops, in denen Wissen über interkulturelle und interreligiöse Zusammenhänge vermittelt wird, ebenso wie die Sensibilisierung von Lehrern. "Einmal hat uns eine Schülerin in einer E-Mail auf einen Klassenkameraden aufmerksam gemacht", erzählt Mücke, "wir haben daraufhin die Klasse besucht". Ein Weg, um mit Betroffenen Kontakt aufzunehmen. Auch die Familie wird ins Boot geholt. "Es ist wichtig, Brücken zu bauen", weiß Mücke, "dabei belehren wir nicht, wir laden zum Diskurs ein. Das machen die Extremisten nicht."
"Ich würde Hans-Peter nie verstehen"
Beim Brückenbauen hilft, dass die Mitarbeiter einen muslimischen Hintergrund haben. Einer von ihnen ist Hasan Hüseyin (*Name geändert). Der 26-Jährige hat Islamwissenschaften, Jüdisch-Christliche Religionswissenschaften und Erziehungswissenschaften studiert. In Hessen arbeitet er als Antigewalt- und Kompetenztrainer. Auch in der Justizvollzugsanstalt, die ein beliebter Rekrutierungsort von Extremisten ist. "Die muslimische Identität spielt für meine Arbeit eine wichtige Rolle", ist Hüseyin überzeugt. Sie schafft ihm Zugang zu seinen Probanden. "Das hat mit Authentizität zu tun. Ich bete, ich faste…", nach einer Pause fügt er hinzu, "ich kenne vieles von dem, was sie auch kennen – Diskriminierung." Einmal habe ein Klient zu ihm gesagt: "Ich habe nichts gegen Hans-Peter, aber Hans-Peter würde mich nie verstehen."
Religiöse Toleranz statt Extremismus
Die Beratungsstelle Hessen ist Bestandteil des Hessischen Präventionsnetzwerkes gegen Salafismus. Sie wird finanziert vom Hessischen Innenministerium. Träger sind Violence Prevention Network, das Land Hessen und das Informations- und Kompetenzzentrum "Hessen gegen Extremismus“". Die Anlaufstelle richtet sich an alle, die Beratung oder Unterstützung in der Auseinandersetzung mit religiös begründetem Extremismus suchen. Kontakt: 069 27299997.Doch geht es um mehr. Darum, Wege aufzuzeigen, die jenseits von Gewalt liegen. Eine Methode, mit der Hüseyin arbeitet, ist der biografische Ansatz. Im Lebenslauf suchen Trainer und Proband gemeinsam Phasen, in denen die Radikalisierung begann, und identifizieren Risikofaktoren. "Alkohol, Drogen, ein falscher Freundeskreis", zählt er auf. Mit einer mentalen Stoppkarte ausgestattet können die Jugendlichen lernen, in brenzligen Situationen Alternativwege zu gehen.
Misserfolg und Ablehnung
Alternative Wege, Perspektiven, Möglichkeiten der sozialen Integration. Konkret: Hilfe bei der Ausbildungsplatzsuche, ein Praktikum oder einen Sportverein finden. Die individuellen Problemlagen sind multikausal und häufig sozialer Natur. "Oft fehlt den Jugendlichen eine Vaterfigur, die sie in der Szene suchen", weiß Hüseyin aus Erfahrung, "die emotionale Ebene wie Misserfolg, Ablehnung oder Identitätsprobleme spielen eine Rolle."
Hier sind die Extremisten mit klaren Feindbildern und Schuldzuweisungen ein attraktiver Ansprechpartner. Ein Problem sieht Hüseyin, wenn Jugendliche ihr religiöses Bedürfnis in der Gesellschaft nicht stillen können. "Ein in Deutschland aufgewachsener Jugendlicher, dessen Eltern aus der Türkei kommen, kann sich kaum auf Deutsch mit dem Islam auseinandersetzen, da auch die Imame überwiegend türkisch sprechen", gibt er zu Bedenken.
„Ich habe nichts gegen Hans-Peter, aber Hans-Peter würde mich nie verstehen“
Hüseyin plädiert für pluralistische Ansätze in Kindergärten und Schulen, um differenziertes Wissen über Religion weiterzugeben. "Religionsunterricht als Grundimmunisierung", nennt er das. In seiner Arbeit stellt er immer wieder fest, dass Jugendliche, die in die extremistische Szene abrutschen, wenig über ihre Religion wissen. Das bestätigt Jan Buschbom, wissenschaftlicher Berater von VPN. "Viele sind nicht versiert in theologischen Fragen, ihre religiösen Bedürfnisse sind aber ernst zu nehmen." Bei den Extremisten finden sie Antworten. "Einfache Antworten", so der Wissenschaftler.
Was ist eigentlich Salafismus?
In der Gesellschaft herrscht ein diffuses Wissen über den Islam. Das beginnt bei den Begriffen. So geistert "Salafismus" durch die Medien, wenn es um Syrienausreisende geht. Salafismus bezeichnet jedoch eine islamische Philosophie aus dem späten 19. Jahrhundert. Diese weise zwar im theologischen Bereich Gemeinsamkeiten mit dem heutigen Phänomen, das Buschbom als neosalafistische Subkultur bezeichnet, auf. Jedoch sei eine Gleichsetzung zu kurz gegriffen.
Diffuse Vorstellungen führen zu Unsicherheit im Umgang mit dem Islam. Anknüpfungspunkte für Extremisten. "Sie wollen einen Keil in die Gesellschaft treiben", betont Mücke. Islamangst und Diskriminierung erleichtere es ihnen, junge Menschen zu rekrutieren. "Wir müssen mit den gefährdeten Jugendlichen reden, dürfen sie nicht ausgrenzen." Hüseyin erinnert: "Sie sind in unserer Gesellschaft aufgewachsen. Es sind unsere Jugendliche."
Von Vanessa Renner