Wo das Christkind Briefe schreibt
"Ausschließlich für Wunschbriefe" steht auf dem Briefkasten der Deutschen Post, und "An das Christkind, 51777 Engelskirchen" sowie "tägliche Leerung". Sonst weist von außen nichts daraufhin, dass in dem Hauptgebäude des LVR Industriemuseums die Christkindpostfiliale geöffnet hat: In dessen Winterpause ist hier keine normale Post, sondern eine weihnachtliche Schreibstube eingezogen, mit Tannenzweig-Girlanden an der Decke, verziert mit roten Kugeln, Strohsternen und Lichterketten. Gleich fünf reich geschmückte Weihnachtsbäume funkeln um die Wette, in einer Ecke verbreitet eine alte Pendeluhr nebst Holzsekretär nostalgische Gemütlichkeit. Auf einem Teppich davor parkt ein Schlitten mit Geschenken, die Wände sind mit Schriftstücken und Gebasteltem behängt – alle adressiert an das Christkind, Engelskirchen. Und mittendrin: das Christkind selbst.
Eine junge, blonde Frau hockt, in einem weißen, langen Kleid, auf einer umgedrehten gelben Postkiste, und hat einen Brieföffner in der Hand. Einen Briefumschlag nach dem anderen zieht sie aus einer weiteren Kiste auf ihrem Schoß, lässt den Öffner sorgfältig unter die Kante des Briefes gleiten und schneidet ihn in einem Zug auf. Ihre goldenen Flügel schwingen bei dieser Bewegung, als seien sie aus richtigen Federn. Sie lächelt. "Ich bin das Christkind", sagt sie bestimmt, ihren Namen will sie nicht nennen. Nichts soll die weihnachtliche Szenerie zerstören, deren Teil und Mittelpunkt sie ist. Auf die Frage, wie viele der Briefe sie selbst lese, erklärt sie daher, dass sie langsam sei, verglichen mit ihren Helfern: "Da ich leider schon etwas älter bin und meine Brille vor kurzem kaputtgegangen ist, ist das mit dem Lesen für mich ein bisschen schwierig." Sie schmunzelt, die Rolle des Christkindes macht ihr offensichtlich Spaß.
Das Christkind öffnet den nächsten Brief: "Wer schreibt den Kindergärten?", fragt sie und schaut sich um. "Ich mache das", meint eine Frau. Sie sitzt, wie ihre Kollegen, auf einem modernen Bürostuhl an einem Schreibtisch – auch der mit roten Decken geschmückt. Vor ihr liegen Stifte, Briefpapier und Umschläge, mit Zeichnungen verziert, "Post vom Christkind" steht darauf. "Ich antworte den Kindergartengruppen, da bekommt jedes einzelne Kind einen eigenen Brief", erklärt Elaine Franke. Sie ist dieses Jahr zum ersten Mal im ehrenamtlichen Team dieser besonderen Postfiliale und hilft dem Christkind, die Zuschriften zu beantworten. Bisher sind das rund 70.000 – mehr als im Jahr zuvor. Es mache ihr sehr viel Spaß, meint die Helferin, "man wird zurückversetzt in die Kindheit, in eine bunte Glitzerwelt", denn in der Tat käme aus manchen Briefen ein richtiger Schwall Glitzer. Und auch, wenn es hunderte am Tag seien, sei es eine Freude, sie zu lesen. "Die Kinder freuen sich so auf Weihnachten!", sagt Franke und strahlt über das ganze Gesicht.
"Ich wünsche mir einen Partner"
"Liebes Christkind, ich wünsche mir ganz doll, dass es an Weihnachten schneit, damit du nicht mit dem Motorrad kommen musst", liest Gudrun Schlief vor. Sie ist seit elf Jahren eine der Helferinnen des Christkindes – und immer noch begeistert sie das Briefelesen. "Die Kinder schütten ihr Herz aus und schreiben sich den Kummer von der Seele!" Aber nicht nur die: "Es schreiben auch junge Frauen und Männer Ende 30, ob man ihnen nicht einen Partner besorgen kann", sie lacht. Die meisten Kinderwünsche wären aber sehr bescheiden. "Sehr viele Kinder wünschen sich ganz wenig, wie einfach nur Frieden auf der Welt, dass es keinen Krieg gibt und dass alle Kinder genug zu essen haben." Aber es kämen auch Beschwerden von Kindern, wenn das Christkind nicht antworte – ebenso wie dankbare Rückmeldungen: "Es gibt viele ältere Leute, die schreiben einfach 'Dankeschön, dass es euch gibt, und danke für die Freude, die ihr den Kindern bereitet' und die die Arbeit toll finden, die wir hier machen", erzählt sie.
Ihre Briefe kommen aus allen Ländern nach Engelskirchen. An den Wänden hängen die exotischsten Zuschriften zusammen mit Flaggen der Länder, wie Hongkong, Taiwan oder Malaysia. Die Briefe, die nicht auf Deutsch verfasst sind, werden übersetzt und in der Sprache der Absender beantwortet – ebenso bei Briefen in Blindenschrift. In jeden Antwortbrief kommen ein hübsch verzierter Vordruck und eine weihnachtliche Bastelanleitung. Wenn das Christkind und seine Helfer finden, dass ein Brief einer individuellen Antwort bedarf, schreiben sie mit Goldstift auf besonderem Briefpapier noch Zeilen dazu. So füllen sich Kisten um Kisten mit Antwortbriefen – die zurück an die Schreiber in aller Welt gehen, mit Sondermarke und –stempel.
"Häufig schicken Kinder einfach nur ihren Wunschzettel", erklärt das Christkind, das sich wieder an die Arbeit gemacht hat. Autorennbahn für die Jungs, Barbiepuppen für die Mädchen – jedes Jahr gebe es ähnliche Wünsche, auch für sie selbst: "Oft wünschen sie dem Christkind ein wenig stressiges Weihnachtsfest", sagt die junge Frau und lächelt ein zauberhaftes Christkind-Lächeln. Aber oft gehe es in den Briefen auch darum, was die Kinder gerade erlebten. "Es gibt sehr viele Wünsche für Mitmenschen. Das ist immer rührend zu lesen, und das nimmt einen auch mit." Manchmal erfahre sie von Schicksalsschlägen, etwa, dass ein Großelternteil verstorben sei – verbunden mit dem Wunsch, das Christkind möge dafür sorgen, dass Oma oder Opa wieder zurückkommen könnten. Die junge Frau schaut ernst. "Da muss man etwas feinfühliger sein und versuchen, auf freundlichem Wege zu sagen, dass das alles irgendwo seinen Grund hat, dass Oma und Opa im Himmel bestimmt sehr glücklich sind, von oben auf das Kind herabschauen und es beschützen und dass man sich eventuell nach dem Tod wiedersehen kann."
Ist das auch ihre Auferstehungsvorstellung? "Es geht natürlich viel um Glauben dabei. Wer nicht ans Christkind glaubt, braucht dem Christkind auch nicht schreiben." Und wenn in einem Brief an das Christkind jemand den Wunsch äußere, eine verstorbene Person wiederzusehen, gehe es eben auch um Glauben. "Um diesen Glauben nicht zu verlieren, weder den an das Christkind, noch daran, dass man diese geliebten Personen irgendwann wiedersieht, muss das Christkind an dem Glauben arbeiten und ihn bestärken." Während das Christkind erzählt, spricht niemand in der weihnachtlichen Postfiliale – nur das Knistern und Rascheln des Briefpapiers ist zu hören. Durch die Fenster, mit Sprühschnee verziert, fällt das graue Tageslicht. Die perfekte Weihnachtsidylle innen scheint aus der Zeit gefallen zu sein.
Das Christkind freut sich über jeden Brief - wirklich
Jemand Blondes mit Flügeln – das hätten die meisten im Kopf, wenn es um das Aussehen des Christkindes gehe, meint das Christkind. Und so ist es auch in vielen, vielen Briefen, die hier eingehen, gemalt. "So habe ich mir das Christkind nicht vorgestellt" – das habe sie zwar schon einmal gehört, bei einem Besuch einer Kindergartengruppe. Denn zu bestimmten Zeiten (siehe Infokasten) kann das Christkind in der Postfiliale auch persönlich angetroffen werden. Aber wirklich enttäuscht sei noch kein Kind gewesen, "höchstens verschüchtert, gerade die jüngeren". Das Christkind lächelt. Es freue sich über jeden Besuch und jede Zusendung: "Wenn man sich anguckt, was von den einzelnen Briefeschreibern gebastelt, gemalt oder auch gehäkelt und genäht wird – allein die Geste, mir einen Brief zu schreiben, ist so eine schöne Sache, dass man sich über jeden Brief freut", sagt sie.
Schon gleitet der Brieföffner wieder durch den nächsten Umschlag und das Christkind zieht einen Bogen Papier und ein kleines Geschenk heraus. "Guck mal hier, ich habe Armbänder bekommen!" ruft die junge Frau mit mädchenhafter Freude, steht auf und läuft zu ihren Helfern. Ihre goldenen Flügel schwingen auf ihrem Rücken. Wie sie so vor Pendeluhr und Tannenbäumen steht, ist es zuckersüß, ein beinahe überirdisches Bild. Nur von hinten kann man die Riemen aus durchsichtigem Kunststoff sehen, mit denen die Flügel befestigt sind.
Die Geschichte der Christkindpost
1985 sind laut der Deutschen Post die ersten Briefe "An das Christkind" adressiert worden, doch weil es keine richtige Adresse gab, seien sie nach Engelskirchen geschickt worden, wo eine Mitarbeiterin sie beantwortete. Inzwischen hat das Christkind dort 13 Mitarbeiter "und die machen vor dem Fest auch schon mal Überstunden", erklärt Pressesprecherin Britta Töllner. Im vergangenen Jahr waren es rund 128.000 Zusendungen aus 53 verschiedenen Ländern. In sechs weiteren Weihnachtspostämtern beantworten neben dem Christkind auch der Weihnachtsmann und der Nikolaus die Briefe. Wie teuer die aufwändige Aktion ist, will die Post nicht sagen. Aber sie weiß es zu nutzen: "Wir wollen damit zeigen, wie wertvoll selbstgeschriebene Briefe sind", so Töllner. Gerade für die jüngeren Absender verstehe man die Aktion zudem als Lese- und Schreibförderung.