Moraltheologe Sautermeister über die Grenzen der Selbstoptimierung

Darf der Mensch seinen Körper manipulieren?

Veröffentlicht am 04.01.2018 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Ethik

Bonn ‐ Längst sind Körpermodifikationen nicht mehr darauf beschränkt, Krankheiten zu heilen und Einschränkungen zu kompensieren. Wieviel Selbstoptimierung ist erlaubt? Ein Gespräch mit dem Moraltheologen Jochen Sautermeister.

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Frage: Herr Sautermeister, wir Menschen haben und hatten schon immer den Wunsch, besser zu werden. Noch schöner, noch fitter, noch klüger – da scheint es nach oben hin keine Grenze zu geben. Wie verträgt sich das mit einem christlichen Menschenbild?

Sautermeister: Der Wunsch nach Optimierung ist für den Menschen eigentümlich. Sich verbessern und sich weiterentwickeln zu wollen, gehörte zum Menschen schon immer dazu. Das findet sich auch im christlichen Menschenbild – das gilt auch für den Bereich des Moralischen und das Gebot der Gottesliebe, die den Menschen beständig dazu anhalten, seine Einstellung und sein Verhalten zu bessern. Damit wird die Möglichkeit zur Selbstgestaltung auch zu einer Frage der Verantwortung: Beispielsweise, wenn die Optimierung maßlos wird – was das auch jeweils im Einzelnen heißen mag – und dadurch grundlegende Einsichten, wie die Würde des Menschen oder die Verträglichkeit mit der Umwelt, übergangen bzw. verletzt werden oder man meint, sich selbst überhaupt durch Optimierung und Perfektionierung in unserem Dasein uns Sosein rechtfertigen zu müssen. Wir Christen leben in der Hoffnung und im Vertrauen darauf, dass wir uns nicht perfekt machen müssen, damit unser Leben einen Sinn hat. Denn allein durch unser Dasein bekommen wir von Gott die grundlegende Anerkennung und den Sinn im Dasein zugesprochen. Daher ist es problematisch, der Selbstoptimierung einfach blindlings hinterherzuhecheln, sondern man sollte sich als Christ auch fragen, was unter den gegebenen Möglichkeiten und Bedingungen human, sinnvoll und gerecht ist.

Frage: Inzwischen kann die Technik einen großen Beitrag zur Selbstoptimierung leisten: Für Hörgeschädigte gibt es Cochlea-Implantate, für Menschen ohne Füße Laufprothesen. Manche nutzen die Technik zum sogenannten Bodyhacking und implantieren sich Magnete oder Computerchips, weil sie so den Körper verbessern wollen. Wie weit sollten Menschen damit gehen?

Sautermeister: Da sind zwei Dinge zu unterscheiden. Das eine sind Hilfsmittel, um grundlegende Funktionen des Körpers zu ermöglichen oder wiederherzustellen. Sie sollen helfen, dass Menschen auf möglichst uneingeschränkte Weise ihr Leben meistern können. Das ist ganz im Sinne des christlichen Ethos, das vom Schutz der leib-seelischen Integrität und der körperlichen Unversehrtheit ausgeht. Es ist also ein Ethos des Helfens und des Heilens.Es geht darum, wie man Menschen helfen kann, sodass sie möglichst gut leben können. Das andere ist eine Form des sogenannten Enhancement, zu Deutsch "Erweiterung" bzw. "Verbesserung". Es soll den Körper und seine Fähigkeiten, das seelischen Befinden oder kognitive Leistungen über das Normale hinaus optimieren. Darüber gibt es große ethische Diskussionen. Selbstverbesserung ist ja grundsätzlich etwas, was Menschen beschäftigt. Aber problematisch wird es beispielsweise, wenn man zunehmend den Bezug zu sich selbst verliert. Man sollte also fragen: Dient diese Technik einer Form des selbstbestimmten Lebens? Oder ist es der Versuch, die grundsätzliche Begrenztheit und Endlichkeit des Menschen zu ignorieren oder zu überschreiten? Denn dann würden wir uns etwas vorspielen. Wir können unserer Begrenztheit nicht entfliehen, weil wir unserer Natur nach endliche Wesen sind.

Frage: Weniger invasiv ist die Möglichkeit der Optimierung durch Smartphone-Apps. Manche überwachen den Schlaf, andere sollen das Gedächtnis verbessern oder die Fitness fördern. Ist das alles ohne Risiken?

Sautermeister: Auch das ist ambivalent. Einerseits kann der Mensch so besser über sich Bescheid wissen. Mit der Schlafapp kann er beispielsweise überprüfen, wie er schläft, und herausfinden, warum er schlecht schläft. Fitnessapps andererseits können motivieren, sich zu bewegen. Schwierig wird es auch hier, wenn etwa das Selbstverhältnis auf erhebliche Weise beeinträchtigt wird. Etwa wenn ich nicht mehr in mich hineinspüre, um zu wissen, wie ich geschlafen habe, sondern mich allein auf die Ergebnisse in der App verlasse. Wenn ich mich nur noch über die Technik auf mich beziehe, ist die Gefahr der Entfremdung gegeben. Hier ist es ratsam, ein gutes uns sorgsames Selbstverhältnis zu pflegen. Das kann manchmal auch bedeuten, sich in der Nutzung solcher Apps zu beschränken.

Moraltheologe Jochen Sautermeister
Bild: ©Uni Bonn

Jochen Sautermeister ist Inhaber der Lehrstuhls für Moraltheologie und Direktor des Moraltheologischen Seminars an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Frage: Aber wo fängt diese Selbstbeschränkung an? Der Mensch hat eine riesige Fantasie – und hätte niemand vom Fliegen geträumt, würden wir heute nicht ins Flugzeug steigen können. Aber sollte man sich schon bei den Gedanken zügeln?

Sautermeister: Die Errungenschaften, die wir heute haben, wären nie möglich gewesen ohne Fantasie, das stimmt. Es gibt ja den Spruch "Gedanken sind frei". Und es ist relativ schwierig, Fantasien, die man hat, zu unterdrücken, denn das haben wir nur bedingt im Griff. Gedanken, die gedacht wurden, kann man nicht zurücknehmen. Entscheidend ist, wie man damit verantwortlich umgehen kann. Die Schere setzt also nicht im Kopf an, aber da, wo es um die Umsetzung geht: Nicht alles, was wir können, ist auch für den Menschen und seine Umwelt gut. Nicht alles, was wir uns ausmalen können, ist sinnvoll und wert zu tun. Wir stehen also immer im Spannungsfeld zwischen Selbstgestaltung, auch mit technischen Möglichkeiten, und Selbstbegrenzung.

Frage: Aber wo ist dann Schluss bei der Gestaltung des eigenen Lebens und Verbesserung des eigenen Körpers? Wo muss sich der Mensch begrenzen?

Sautermeister: Das ist zum einen eine Frage des Selbstverständnisses. Dazu gehört, dass wir einander Kommunikations- und Handlungsvollzüge zuschreiben, also beispielsweise Verantwortung oder Urheberschaft für eine bestimmte Handlung. Wir Menschen haben überdies soziale und kulturelle Orientierungsmuster entwickelt, die uns helfen, uns zu verständigen und unsere Interaktionen, unser Handeln untereinander zu koordinieren. Wenn ich aber aufgrund bestimmter technischer Implantate nicht mehr ausmachen könnte, wer für eine Tat „verantwortlich“ ist, eine Person oder die Technik, und ob etwa seine Gefühle echt sind oder durch das Implantat verursacht würden, dann wäre das ein massiver Eingriff. Wir müssten uns fragen, ob wir dazu bereit wären, das zu wollen. Dazu gehört auch die Frage, ob wir akzeptieren können, dass der Mensch seinem Wesen nach grundsätzlich begrenzt und endlich ist. Wenn der Mensch dies jedoch grundsätzlich ignorieren und sich darüber erheben wollte, wäre aus christlicher Sicht eine Grenze erreicht.

Zum anderen ist aber auch die Perspektive der Gerechtigkeit einzunehmen. Wenn durch ein Cochlea-Implantat einem Menschen das Hören wieder ermöglicht wird, dann gleicht das ein Defizit aus. Aber wenn einige Menschen durch irgendeine Technik beispielsweise einen Vorteil erlangen, den andere nicht haben, wäre das eine Gerechtigkeitsproblem. Denn Menschen sind für solche nicht-natürlichen Unterschiede verantwortlich Nicht umsonst lässt man Sportler mit Laufprothesen nicht gegen nichtbehinderte Sportler antreten – wenn durch diese beschleunigenden Prothesen eine Vorteil entsteht. Besonders extrem wird es dann, wenn der Mensch ohne Technik als ungenügend angesehen wird und ein sozialer Druck besteht, diese Technik zu nutzen.

Frage: Aber wenn Sie gerecht nennen, wenn man ausgleicht, was die Natur dem Menschen versagt hat – beispielsweise bei einem tauben Kind –, dann muss man auch grundsätzlicher fragen: Wenn man davon ausgeht, dass die Natur so ist, wie Gott sie gewollt hat, geht man dann mit der Selbstoptimierung nicht gegen den Willen Gottes?

Sautermeister: Das ist schwierig, denn da sind wir sehr schnell im Bereich der Theodizee. So gesehen dürften wir aber, wenn wir alles unter der Kategorie "Gottes Wille" sehen, gar nichts gestalten. Das wäre sehr fatalistisch – mitunter sogar zynisch – und mit einem verantwortlichen Glauben nicht vereinbar. Stattdessen ist es im Christentum die Vorstellung vom Mensch als Ebenbild Gottes zentral. Damit einher geht die Vorstellung, dass der Menschen ein von Gott mit Vernunft und Willen begabtes Wesen ist. Darin steckt schon der Auftrag zur verantwortlichen Gestaltung seiner selbst und der Welt. Und dazu gehört, dass der Mensch seine Lebensmöglichkeiten verbessern soll, aber auch, dass er anderen nach Möglichkeit hilft und sie befähigt werden, wieder möglichst selbstbestimmt durchs Leben zu gehen. Und da sind wir wieder bei der Gerechtigkeit.

Frage: Bei der Bewertung der Selbstoptimierung geht es also auch immer um Vergleiche, und damit um das Normale, um das Mittelmaß. Aber was ist beim Menschen "normal"?

Sautermeister: Dieser Begriff muss immer wieder ausgehandelt werden. Beispiel Lebenserwartung: Da haben wir heute ganz andere Durchschnittswerte als vor 200 Jahren. Was normal ist, variiert also soziokulturell, aber auch mit den technischen Errungenschaften. Weil also die Kategorie des Normalen dynamisch und veränderbar ist, ist es wichtig, an grundlegenden Prinzipien festzuhalten, wie Gerechtigkeit, Menschenwürde und gehaltvolle wie auch vage Vorstellungen des guten Lebens. Dazu zählt aber auch anzuerkennen, dass der Mensch grundsätzlich verletzbar, zerbrechlich und endlich ist – also bleibend unperfekt, wie es heißt „Nobody is perfect.“

Frage: Eine Selbstoptimierung, die inzwischen "normal" ist, sind Schönheitsoperationen, aber auch Piercings und Tattoos. Wie sieht es denn damit aus?

Sautermeister: Es gab Zeiten, da war das ein großer Anstoß. Tatsächlich sind ästhetische Verschönerung, wie Schminke, Tattoos oder Piercings, kulturgeschichtlich schon sehr alt. Grundsätzlich denke ich, man sollte dem nicht mit Misstrauen begegnen, denn dazu hat jede Person das Recht. Schwierig wird es dann, wenn sozialer Druck die Menschen dazu bringt, sich beispielsweise die Nase begradigen zu lassen. Oder wenn Menschen immer weiter von sich aus den Drang haben, sich verschönern zu müssen, weil man sich selbst ansonsten nicht akzeptieren kann. Die Schönheits- und Kosmetikindustrie hat mit ihren normierenden Bildern von Schönheit, Jugendlichkeit, Wohlgeformtheit einen großen Einfluss. Daher ist es wichtig, für solche unbewussten Mechanismen zu sensibilisieren und daran Kritik zu üben. Aufgabe von Moraltheologie und Ethik ist es jedoch, nicht vorschnell zu moralisieren. Vielmehr geht es darum, die Frage der menschlichen Sehnsucht nach Schönheit, Gelingen, Sinn, Heil und Erfüllung ernst zu nehmen, und Wege des Glückens im gerechten Miteinander zu bedenken.

Von Johanna Heckeley