Heiligtümer kommen und gehen
Ein schöner "Dom", der von Baggern zerstört wird – das ist doch das Sinnbild des Endes. Die Kirche zerfällt zu Staub, die vergangene Pracht wird zunichtegemacht. Auch eine Kirche geht den Weg alles Weltlichen, sie kann profaniert werden, d.h. sie kann entwidmet und somit als ganz normales Gebäude benutzt oder gar abgerissen werden. Dass eine Kirche kein Gotteshaus mehr sein kann, wird im Kirchenrecht geregelt: "Wo […] schwerwiegende Gründe es nahelegen, eine Kirche nicht mehr zum Gottesdienst zu verwenden, kann sie der Diözesanbischof nach Anhören des Priesterrates profanem, aber nicht unwürdigem Gebrauch zurückgeben, vorausgesetzt, daß diejenigen, die rechtmäßig Recht an der Kirche beanspruchen, zustimmen und das Heil der Seelen dadurch keinen Schaden nimmt." Aber was sind schwerwiegende Gründe? Ist die Verweltlichung eines heiligen Ortes, an dem Generationen gebetet haben, kein Schaden für das Heil der Seele der Ortsgemeinde?
Nicht immer ist die Sünde der Gläubigen schuld
Heiligtümer kommen und gehen. Wie ein archäologischer Fund nahe der israelischen Stadt Be’er Scheva zeigt, konnte selbst aus einem Altar der biblischen Zeit Baumaterial für eine einfache Mauer eines Lagerhauses werden. Der Tempel, in dem dieser Altar stand, war vermutlich JHWH gewidmet. Von ihm existieren heute nur noch archäologische Überreste. Auch die Bibel berichtet von aufgegebenen Tempeln. Gott selbst verlässt den Tempel in Jerusalem und gibt ihn der Zerstörung preis. In einer Vision berichtet das Prophetenbuch Ezechiel von Gottes Beschluss, Jerusalem samt Tempel aufgrund der Sünden Israels zu zerstören; dazu verlässt Gott seinen Tempel: "Die Herrlichkeit des HERRN stieg empor weg aus der Mitte der Stadt; und sie blieb stehen auf dem Berg im Osten der Stadt." (Ez 11,23)
Das heißt aber nicht, dass jede Zerstörung eines Gotteshauses auf die Sünden der Gläubigen zurückzuführen sei. Vielmehr verdeutlichen diese Worte, wie es auch in den Zionsliedern in den Psalmen 46 und 48 besungen wird, dass selbst der Tempel in Jerusalem aus biblischer Perspektive nur durch die Anwesenheit Gottes heilig ist. Gott ist nicht statisch, sondern dynamisch. Der Gott, der sich dem Volk Israel auf dem Sinai offenbart hat, lässt sich dort keinen Tempel bauen, sondern legt im Buch Deuteronomium fest, dass Israel nur eine einzige Kultstätte haben soll, zu der er sich mit seinem Volk auf den Weg macht: "Ihr sollt nicht das Gleiche tun wie diese Völker [die Kanaanäer], wenn ihr den HERRN, euren Gott, verehrt, sondern ihr sollt nach der Stätte fragen, die der Herr, euer Gott, aus allen euren Stammesgebieten erwählen wird, indem er dort seinen Namen anbringt. Nach seiner Wohnung sollt ihr fragen und dorthin sollst du ziehen." (Dtn 12,4-5)
Gemäß dem Erzählfaden, der sich vom Buch Deuteronomium, über die Bücher Josua, Richter, 1 u. 2. Samuel bis in die Königebücher erstreckt, ist der Tempel in Jerusalem, den König Salomo erbaut, diese Stätte, an der Gott seinen Kult zentralisiert (vgl. 1 Könige 8) und die Gott gemäß dem Buch Ezechiel selbst zerstören lassen wird. Zwischen diesen Wegpunkten wird am Anfang der Samuelbücher ein Tempel in Schilo genannt. Weder berichtet der Text, dass Gott den Bau dieses Tempels angeordnet hat, noch wird später erzählt, dass der Tempel zerstört worden sei.
Dieses Gotteshaus, in dem Priester Gott dienen und Gott sich offenbart, verschwindet in der Erzählung ebenso sang- und klanglos, wie es aufgetaucht ist. Es wird nur als Tempel definiert, da darin die Bundeslade steht. Sie ist das Symbol des mit seinem Volk mitziehenden Gottes. Nachdem sie im Krieg gegen die Philister verlorengeht, dann aber doch zu Israel zurückkehrt, wird sie nicht wieder im Tempel in Schilo untergebracht, sondern ohne die vorherigen Gegebenheiten zu berücksichtigen, an einen anderen Ort gebracht. Gott hatte bereits die alte Priesterfamilie in Schilo verworfen und nun verwarf Israel selbst auch den alten Tempel: Da kamen die Leute von Kirjat-Jearim und holten die Lade des HERRN zu sich hinauf. Sie brachten sie in das Haus Abinadabs auf der Anhöhe. Und seinen Sohn Eleasar weihten sie, dass er die Lade des HERRN bewachte." (1 Sam 7,1)
Nur der Tempel in Jerusalem blieb Relevant
Der Tempel in Schilo wird am Anfang des Buches 1 Samuel erinnert, aber in der folgenden Geschichte Israels spielt er keine Rolle mehr, er ist nicht mehr relevant. Einzig und allein der Tempel in Jerusalem bzw. dessen Wiederaufbau ist die Sehnsucht Israels im Exil. Aus babylonischer Gefangenschaft zurückgekehrt wird er für Israel zur einzigen Kultstätte bis zur erneuten Zerstörung 70 n.Chr.
Für die ersten Christen, die Juden waren, war dieser Tempel bis zu seiner Zerstörung auch ihre heilige Stätte: "Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Lauterkeit des Herzens." (Apg 2,46)
Die aus den Privathäusern entstehenden Kirchen waren kein Tempelersatz, sondern der Ort der Gemeinschaft und der Versammlung. Es gibt keine in den Schriften des Neuen Testaments grundgelegte Sehnsucht nach dem Tempel oder dessen Wiederaufbau, sondern ganz im Gegenteil: Das frühe Christentum verabschiedet sich von der Idee eines Sakralortes als essentieller Bestandteil der neu entstehenden Religion. Sie braucht Versammlungsorte, keine Tempel. Dieser Abschied von einem lokal gebundenen Kult wird im Johannes-Evangelium im Gespräch Jesu mit der Samaritanerin ins Wort gefasst; sie sagt zu ihm: "Unsere Väter haben auf diesem Berg [Garizim] Gott angebetet; ihr [die Juden] aber sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man beten soll." (Joh 4,20)
Jesus antwortet ihr: "Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. […] Aber die Stunde kommt und ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden." (Joh 4,21.23)
Eine Gemeinde bedarf keines Kirchengebäudes
Eine Gemeinde füllt einen Sakralbau mit Leben, aber sie bedarf keines Kirchengebäudes. Sie ist vorrangig eine im eucharistischen Gottesdienst begründete Lebens- und Dienstgemeinschaft, die in ihrer Sozialstruktur, in ihrer Pluralität und Solidarität durch Jesus Christus begründet ist (vgl. 1 Korinther 12,12-27). Die Gemeinde ist das eigentliche, geistige Haus, in dem sich Christentum als Gemeinschaft ereignet: Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige Opfer darzubringen, die Gott gefallen. (1 Petrus 2,5)
Der Leib Christi ist nicht das Kirchengemäuer und die Aufgabe der Christen ist auch nicht der Denkmalschutz, sondern in Jesu Christi "Fußspuren zu wandeln" (1 Petrus 2,21) und in Worten und Werken selbst Zeugen der Hoffnung zu sein (vgl. 1 Petrus 2,12).
Ja, alte Kirchen sind schön und können als Zeugen einer glorreichen Vergangenheit angesehen werden. Architektonisch sind manche gar in Stein gemeißelte Theologie, aber sie bleiben doch eben nur dies: kalte Steine. Ja, die Profanierung einer Kirche und gar ihr Abriss sind ein Messerstich in das Herz der Ortsgemeinde; Vertrautes geht verloren – aber das ist der Lauf der Zeit. Bereits die biblische Geschichte zeigt, dass von Gottes Tempeln am Ende nichts oder nur Schutt übrig bleibt. Das Seelenheil der Christen wird nicht durch eine Abrissbirne entschieden, sondern in der gemeinsamen Nachfolge dessen, der selbst kein Haus gebaut hat.