Ist Seelsorge nur eine Frage des Stils?
Wenn es um aktuelle Probleme der Kirche geht, kommt die Rede fast unweigerlich auf Sparzwänge und Priestermangel. Häufig unbeachtet bleibt dabei eine mindestens ebenso große Herausforderung: die Individualisierung der postmodernen Welt. Sie spielt den Seelsorgern nicht gerade in die Karten, denn mit der klassischen Pfarreiseelsorge erreichen sie immer weniger Gläubige. Die Kirche sucht daher nach neuen Konzepten. Neben die erprobte Kategorialseelsorge etwa für Migranten oder Kranke gesellt sich in jüngerer Zeit der Ansatz der "milieusensiblen Pastoral". Unter diesem Schlagwort greift die Pastoraltheologie Erkenntnisse der Gesellschaftswissenschaften auf und passt dazu seelsorgliche Angebote ästhetisch und inhaltlich an die Lebenswelten der Milieus an. Doch ist die Seelsorge für Performer, Etablierte oder Hedonisten tatsächlich die Lösung?
Eher nicht, lautet die ernüchternde Antwort des Münchner Humangeographen Johannes Mahne-Bieder. Auf Basis einer repräsentativen Studie unter deutschen Katholiken formuliert er eindeutige Kritik an dem in kirchlichen Kreisen weit verbreiteten Milieu-Paradigma. Nach diesem hätte etwa die junge Bildungselite grundsätzlich andere Ansprüche an das kirchliche Leben als ihre kleinbürgerliche Großelterngeneration. Diesen Zusammenhang hält der Forscher für längst nicht so eindeutig, wie häufig angenommen. "Ich kritisiere den Umkehrschluss, dass ein bestimmter Lebensstil zu einem bestimmten religiösen Verhalten führt", sagt er im Gespräch mit katholisch.de.
Milieus sind nicht in jeder Hinsicht homogen
Unbestritten ist, dass Katholiken sehr unterschiedliche Lebensstile pflegen und damit in jedem Milieu vertreten sind. Das zeigt etwa die 2013 im Auftrag der kirchlichen Consulting-Agentur MDG durchgeführte "Sinus"-Milieustudie. Die "milieusensible Pastoral" zieht daraus, verkürzt gesagt, den Schluss, spezielle Angebote für die Katholiken zum Beispiel im "Milieu der Traditionellen" oder im "liberal-intellektuellen Milieu" zu entwerfen. Auf Grundlage seiner eigenen Studie benennt Mahne-Bieder ein eklatantes Problem an diesem Konzept. Demnach könne von einer homogenen Religiosität innerhalb der Milieus nicht die Rede sein.
In seiner an der Universität Augsburg angefertigten Dissertation "Katholische Glaubensstile in postsäkularen Gesellschaften" stellt Mahne-Bieder ein schlüssiges Gegenmodell etwa zur "Sinus"-Milieustudie auf. Dabei nähert er sich sozusagen aus der entgegengesetzten Richtung an. Für seine Typisierung der deutschen Katholiken zieht er anstatt allgemeiner Einstellungen und Lebensumstände, sprich der beschreibenden Faktoren des Milieus, allein die Art und Weise heran, wie die Katholiken ihren Glauben leben. Einkommen, Lebensumfeld oder Alter mögen damit zusammen hängen, spielen für die Einteilung jedoch keine Rolle.
Fünf Glaubensstile hat der Wissenschaftler so in Deutschland ausgemacht: Die "volksfrommen Traditionalisten" sind die einzige Gruppe, die durchweg "hoch-religiös" agiert. Die "spirituellen Experimentalisten" sind teilweise ähnlich stark gläubig. Zu den religiösen Gruppen zählen zudem die "frommen Modernisierer" und die "gleichgültigen Mitläufer". Die fünfte Gruppe der "intellektuellen Zweifler" ist schließlich als "nicht-religiös" anzusehen.
Verwunderlich wirkt auf den ersten Blick: Die "Zweifler" stellen mit 26 Prozent die zweitgrößte Gruppe der Katholiken. Dabei haben sie weder einen inneren Bezug zum christlichen Glauben, noch zum kirchlichen Leben. Laut Mahne-Bieder könnte die Eigenschaft der Kirche als soziale Ressource ihren Verbleib als Katholiken begründen: Kita-, Kindergarten- oder Krabbelgruppenplatz könnten etwa für manche schon Grund genug sein, nicht aus der Kirche auszutreten.
Einen immerhin schwachen Bezug zum Glaubensleben der Kirche haben die "leidenschaftslosen Mitläufer", zu denen Mahne-Bieder über ein Drittel der Katholiken (35 Prozent) zählt. Sie glauben an Gott, nehmen am liturgischen Leben deswegen aber trotzdem kaum teil. "Lediglich die Öffnung des Priesteramtes für Frauen und die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe halten sie für wichtig", heißt es in der Studie.
Für das soziale und ethische Engagement der Kirche bringen immerhin beide Glaubensstile große Wertschätzung auf. Laut Mahne-Bieder schreiben 91 Prozent der "Zweifler" der Kirche eine wichtige Rolle beim Kampf gegen Ungerechtigkeit in der Welt zu. Im vergangenen Jahr kam eine Studie im Erzbistum Köln, die auch Nichtkatholiken berücksichtigte, zu ähnlichen Ergebnissen.
Fast zwei Drittel der Katholiken haben wenig Kirchenbindung
Dennoch zeichnet sich beim Blick auf die beiden Glaubensstile der Fernstehenden zunächst ein negatives Bild der Kirche in Deutschland ab. Schließlich weisen mit den "Zweiflern" und "Mitläufern" immerhin 61 Prozent der Katholiken wenig bis keine Bindung an die Kirche auf. Diese fragile Zugehörigkeit drückt sich etwa in den von Mahne-Bieder ermittelten Haltungen zu kirchliche Streitfragen aus. So gibt es in den genannten Gruppen etwa so gut wie keine Zustimmung zur Sexualmoral der Kirche mehr, ihre Vertreter fordern stattdessen die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion.
Gegen diese defizitäre Bild von Kirche steht die bedeutende Rolle der Kasualien wie Taufe oder Hochzeit auch unter den Fernstehenden. Das lege "den Schluss nahe, dass viele Befragte zumindest eine latente Religiosität aufweisen", erklärt Mahne-Bieder. Laut der Studie wünschen sich immerhin 40 Prozent der "Zweifler" und mehr als zwei Drittel der "leidenschaftslosen Mitläufer" ein christliches Begräbnis. Letztere zieht es zudem für die Hochzeit mit Vorliebe in die Kirche.
In den Gotteshäusern finden sich ansonsten jene drei Glaubensstile, die mehr als nur "latent" gläubig sind. Den "Modernisierern" (13 Prozent), "Experimentalisten" (14 Prozent) und "Traditionalisten" (12 Prozent) unterstellt die Studie jeweils eine mehr oder weniger ausgeprägte Religiosität. Die Vertreter dieser Glaubensstile nehmen demnach regelmäßig an der heiligen Messe teil, etliche von ihnen jede Woche.
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Die Unterschiede zwischen den religiösen Glaubensstilen beziehen sich etwa auf die Integration des Glaubens in das persönliche Leben, bevorzugte liturgische Ausdrucksformen oder die Haltung zu bestimmten kirchlichen Fragen. So ist für die "frommen Modernisierer" der Wunsch nach Reformen elementarer Bestandteil des eigenen Glaubenslebens, was sich in einem überdurchschnittlichen Engagement in Gremien ausdrückt. Ihre Frömmigkeit ist zudem stark modern geprägt, etwa durch Taizé-Gebete.
Auch die "spirituellen Experimentalisten" stehen fest im Glauben und nehmen am Leben der Kirche regen Anteil. Dabei verhalten sie sich laut Mahne-Bieder jedoch sehr individualisiert. Zu innerkirchlichen Streitfragen gehen die Meinungen in dieser Gruppe weit auseinander. Zugleich betreiben sie teilweise Synkretismus, indem sie etwa spirituelle Praktiken fernöstlicher Religionen übernehmen.
Deutlich geschlossener stehen die "volksfrommen Traditionalisten" da. Für sie ist die Glaubenslehre der Kirche nicht verhandelbar, ebenso die umfassende Teilnahme am liturgischen Leben. Im innerkirchlichen Diskurs in den Gremien bleiben sie deutlich unterrepräsentiert. Mahne-Bieder sieht das hohe Durchschnittsalter der "Traditionalisten" von 61 Jahren, dem höchsten aller Glaubensstile, als mögliche Erklärung für die Zurückhaltung.
Frühere Generationen wurden religiöser erzogen
Blickt man auf die Gottesdienstgemeinde einer durchschnittlichen deutschen Pfarrkirche, mag der Zusammenhang zwischen hohem Alter und Kirchentreue kaum verwundern. Auch in Mahne-Bieders Studie zeichnet sich ein entsprechender Trend ab: Je weiter die Glaubensstile in Richtung der Glaubensferne tendieren, desto jünger werden ihre Vertreter. Mit durchschnittlich 39 Jahren sind die "intellektuellen Zweifler" deutlich die jüngste Gruppe. Der Abstand zu den "Traditionalisten" beträgt 22 Jahre, also eine ganze Generation.
Die Formel "je älter desto religiöser" hält Mahne-Bieder dennoch nicht für pauschal richtig: "Wenn es am Alter läge, würde es ja bedeuten, dass die heute Geborenen irgendwann auch religiöser werden", gibt er zu bedenken. Diese These sei allerdings nicht eindeutig zu belegen. Unbestritten sei hingegen der Einfluss der gesellschaftlichen Umstände auf die eigene religiöse Entwicklung.
Die Studie zum Download
Im vergangenen Jahr hat Johannes Mahne-Bieder an der Universität Augsburg seine Dissertation "Katholische Glaubensstile in postsäkularen Gesellschaften: das religiöse Verhalten katholischer Christen in Deutschland" vorgelegt. Die humangeographische Studie steht auf der Seite der Universität zum Download.Diesem Zusammenhang fügt Mahne-Bieder schließlich mit seiner Studie eine neue Perspektive hinzu. Der Humangeograph suchte dazu Beziehungen zwischen dem Wohnort der Katholiken und ihrer Religiosität. Und er hat sie gefunden: "Bei der Religionsausübung bestehen trotz langjähriger Urbanisierung noch gravierende Unterschiede zwischen urbanen und ruralen Räumen fort", lautet das Ergebnis.
Je ländlicher desto religiöser
"Zur Zeit ist es so, dass Menschen in ruralen Gebieten kirchennäher sind", sagt Mahne-Bieder im Gespräch. Seine Zahlen erklären: Nirgends ist der Anteil der "Traditionalisten" so hoch wie auf dem Dorf (31 Prozent), während die Großstadt wiederum das Terrain der "intellektuellen Zweifler" ist (39 Prozent). Die stärkste Durchmischung der Glaubensstile findet in den Vororten statt, wo sich religiöse und nicht-religiöse Stile die Waage halten. Die Studie berücksichtigt dabei auch Erkenntnisse der Stadtsoziologie auf. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts hatte etwa Georg Simmel erkannt, dass Urbanisierung die Auflösung enger sozialer Kreise begünstigt und zu geistiger Abstumpfung führt. Zugleich sind heute alle Siedlungsformen vom Dorf bis zur Großstadt urbanisiert, lediglich in unterschiedlichem Maße.
Gerade die dezidiert humangeographischen Erkenntnisse aus Mahne-Bieders Studie bieten einen hochaktuellen Mehrwert. Denn laut dem Forscher könnten seine Glaubensstile etwa bei der Raumplanung in Strukturreformen helfen. Mit fertigen Konzepten kann er dabei nicht dienen, dafür mit Entscheidungsgrundlagen. So könne man etwa davon ausgehen, dass Katholiken in den Dörfern eine festere und belastbarere Bindung an die Kirche haben und daher auch weitere Wege innerhalb einer Großpfarrei in Kauf nehmen. Zugleich betrachten sie die Kirche als Institution im Dorf als hohen Wert und würden etwa den Wegfall des eigenen Dorfpfarrers als besonders schmerzlichen Verlust wahrnehmen. In der Stadt hingegen erfordere die Seelsorge für potenziell fernstehende Katholiken eine sehr differenzierte Pastoral. Auch dabei ist ein hoher Ressourceneinsatz unabdingbar. Zwischen solchen teils widersprüchlichen Anforderungen zu vermitteln, erfordert laut Mahne-Bieder strategische Entscheidungen.
Diese standen bislang auch in der "milieusensible Pastoral" an. Folgt man jedoch Mahne-Bieders Ergebnissen, könnten diese Entscheidungen manchmal an den einschlägigen Trennlinien vorbei gegangen sein. Eine City-Jugendkirche zieht eben den traditionalistischen Teil der städtischen Jugend wahrscheinlich nicht an. Und nicht allein Akademiker und Etablierte können ein sakrales Orgelkonzert genießen. Wer Seelsorge für ein bestimmtes Milieu macht, müsste folgerichtig völlig unterschiedliche Stile gleichzeitig bedienen. Das naheliegende Gegenmodell wäre eine "glaubensstilsensible Pastoral", die sich die spirituelle Vielfalt der Katholiken zu Nutze macht.