Wie eine US-Diözese "Amoris laetitia" auslegt
Kardinal Donald Wuerl gehört nicht zu den Heißspornen unter den katholischen Führungspersönlichkeiten der USA. Der Erzbischof von Washington gilt als besonnener Mann. Mit seinen 77 Jahren hat er die Erfahrung und Autorität, auch kontroverse Themen anzupacken, denen jüngere Bischöfe lieber aus dem Weg gehen. Nun hat Wuerl einen Pastoralplan veröffentlicht, der sich mit "Amoris laetitia" befasst.
Über das päpstliche Schreiben zu Ehe und Familie aus dem Jahr 2016 wird in der katholischen Weltkirche immer noch kontrovers diskutiert. Wichtigster Streitpunkt ist der Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen. Die waren nach kirchlicher Lehre bisher vom Empfang der Kommunion ausgeschlossen. Franziskus plädiert dafür, in Einzelfällen zivilrechtlich Wiederverheirateten nach eingehender seelsorglicher Prüfung den Empfang der Sakramente zu ermöglichen, auch wenn ihre frühere Ehe kirchenrechtlich weiter Bestand hat. Immer wieder gibt es - teils harsche - Kritik an dieser Änderung.
Deutungen in den USA gehen auseinander
Auch in den USA sind die Deutungen von "Amoris laetitia" durchaus unterschiedlich. Im Erzbistum Philadelphia empfiehlt der konservative Erzbischof Charles Chaput wiederverheirateten Geschiedenen sexuelle Enthaltsamkeit. Sie sollten wie "Bruder und Schwester" leben, um im Sakrament der Buße Versöhnung zu empfangen. Der von Papst Franziskus in Chicago eingesetzte Erzbischof Blase J. Cupich, der als Sprachrohr des liberalen Flügels in der US-Bischofskonferenz gilt, vertritt indes eine andere Haltung. Der Kardinal macht in dem Papstschreiben einen "radikalen Wandel" aus, wie die Kirche mit schwierigen Familienverhältnissen umgehen solle.
In dieser heiklen Gemengelage bemüht sich Wuerl um eine Position des Ausgleichs: "Nein, die Kirchenlehre hat sich nicht verändert", betont er in seinem 58 Seiten umfassenden Pastoralplan für die 139 Kirchengemeinden seines Erzbistums. Die "objektive Wahrheit" bleibe unangetastet. Niemand könne durch eine - wenn auch überlegte - Entscheidung zur eigenen Lebenssituation die Morallehre aufheben.
Zugleich setzt sich der Kardinal für jene ein, die aus kirchlicher Sicht in "irregulären Situationen" lebten. Die Kirche dürfe niemanden ausschließen, fordert er. Weder Geschiedene noch Menschen, die sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlten. Und zur Rolle des Gewissens schreibt er: "Priester sind aufgerufen, die Gewissensentscheidungen der einzelnen zu respektieren, die in gutem Glauben handeln. Denn niemand kann in die Seele eines anderen hinein gelangen und das stellvertretend für den anderen beurteilen."
Wuerl erkennt an, dass das Familienleben in den USA ein anderes ist als noch in den 50er-Jahren: "Die Bedingungen sind anders geworden." Man könne den vielen ehemaligen Katholiken oder nicht praktizierenden Katholiken schwerlich vorwerfen, von der Lehre abzuweichen, wenn sie ihnen nie richtig vermittelt worden sei. Eine einladende Kirche habe jedoch das Potential, Menschen wieder zusammenzubringen. Mit Blick auf "Amoris laetitia" vermeidet der Erzbischof eine innerkirchliche Konfrontation und wählt stattdessen beschwichtigende Worte: "Weder die Apostolische Exhortation noch dieser Pastoralplan bieten eine Liste mit Antworten auf alle menschlichen Lebenslagen."
Verhaltene Kritik
Der Direktor des Zentrums für Liturgie an der Universität Notre Dame, Timothy O'Malley, hält das Dokument des Kardinals für bemerkenswert. Wuerl konzentriere sich nicht nur darauf, Regeln zu erklären. Er stelle den Menschen in den Mittelpunkt. Der Kirche gingen Gläubige verloren, weil sie oft keine familiäre Begleitung mehr in religiösen Fragen hätten, so der Experte. Dieses Problem habe Wuerl richtig erkannt.
Tatsächlich gibt es in den USA seit Jahren immer weniger katholische Eheschließungen und Kindstaufen. Etliche Diözesen begreifen "Amoris laetitia" als Chance für einen Wandel und plädieren für eine rasche Umsetzung des Lehrschreibens. Sie folgen damit dem Beispiel vieler europäischer Diözesen, die sich nicht zuletzt im Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen mehr Flexibilität wünschen.
Auffällig an Wuerls Interpretation des Papstschreibens ist die verhaltene Kritik der meisten Traditionalisten und das Lob einiger Konservativer. So schreibt etwa das Magazin "National Catholic Register" über die gelungene Gratwanderung Wuerls: "Nach so viel Polarisierung haben wir endlich eine örtliche Umsetzung von 'Amoris laetitia', die dem größeren Zusammenhang von Papst Franziskus' Herausforderung und Vision gerecht wird."