Wenn die Kirchen und der Moscheeverein zusammenarbeiten

Seelsorge im sozialen Brennpunkt

Veröffentlicht am 21.05.2018 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Religionen

Bonn ‐ Ob "Bronx" oder "Zweites Molenbeek": Duisburg-Marxloh und Bonn-Tannenbusch sind berüchtigt. Hier geht es um Schulden, Suchtprobleme und Sozialleistungen. Wie sieht Seelsorge an solchen Orten aus?

  • Teilen:

Rosanna Buhl, 68, und Andrea Jonen, 50, sind enge Freundinnen. Sie besuchen sich regelmäßig, wenn alles gut geht, dann sehen sie sich sogar zweimal in der Woche zum Mittagessen. Dafür gehen sie an den Ort, an dem sie sich angefreundet haben: der Mittagstisch Oase im Pfarrzentrum der Thomas-Morus-Gemeinde in Bonn-Tannenbusch, jeden Dienstag und Donnerstag ab 12 Uhr. "Wir gehören hier ja schon zum Inventar", lacht die resolute Seniorin Buhl. Andrea Jonen steht für das gemeinsame Foto extra von ihrem Stuhl auf, um hinter dem Rollstuhl ihrer Freundin zu posieren.

Buhl und Jonen sind zwei von rund 70 bis 80 Menschen aus Tannenbusch und den anderen sozial schwächeren Stadtteilen im Bonner Nordwesten, die regelmäßig den Mittagstisch besuchen. Neben der katholischen haben ihn auch die evangelische Gemeinde und der Bonner Moscheeverein mit initiiert. Normalverdiener zahlen hier drei Euro, bedürftige Menschen 1,50 Euro pro Mahlzeit. Heute stehen ein vegetarischer Eintopf und ein Nudelgericht zu Wahl, an einer zweiten Ausgabetheke warten außerdem Pizzateilchen oder zum Nachtisch süße Brötchen und Gebäck vom Bäcker darauf, verzehrt zu werden.  Wer mochte, konnte sich vor dem Essen noch in der Kleiderkammer der Gemeinde umschauen.  An der Decke des Essenssaals hängen Girlanden mit kleinen Fahnen, die alle 150 Nationen widerspiegeln, die in dem Bonner Problemstadtteil leben: die Türkei und Italien, Bulgarien und Rumänien, Deutschland und Marokko – alles ist hier vertreten. "Wir sind hier nicht nur katholisch, sondern Multikulti", stellt eine der ehrenamtlichen Helferinnen gegenüber katholisch.de klar. Eine andere ist die 65-jährige Bonnerin Ute Jaeger. Sie erklärt, warum sie ihre Freizeit für den Mittagstisch opfert:  "Ich mache das einfach, weil es mir Spaß macht. Das Team ist nett, und die Bedürftigen sind dankbar und froh", erklärt die Rentnerin.

Tannenbusch als das zweite Molenbeek?

Unter den Bonner Bezirken gilt Tannenbusch als DER Problemstadtteil: Als "Bonn-Bronx" wurde er schon bezeichnet oder als das "Zweite Molenbeek", angelehnt an die Gemeinde nahe der belgischen Hauptstadt Brüssel, aus der gleich mehrere Selbstmordattentäter europäischer Anschläge stammen sollen. Wenn Ralf Knoblauch diese Spitznamen in Zusammenhang mit Tannenbusch hört, dann gleitet ein Lächeln über sein Gesicht, das zeigt, dass er schon weiß, was jetzt kommt. Unzählige Male ist der katholische Diakon bereits ähnlich plakativ auf das schlechte Image seines Stadtteiles angesprochen worden. Für ihn sind solche Bezeichnungen zwar vollkommen übertrieben. Alles in Ordnung ist in Tannenbusch aus seiner Sicht aber auch nicht: "Es gibt hier schon einige dunkle Ecken, an denen ich meine Tochter abends nicht allein herlaufen lassen würde", sagt er mit festem Blick.

Diakon Ralf Knoblauch
Bild: ©katholisch.de

Ralf Knoblauch ist Diakon in der katholischen Thomas-Morus-Gemeinde in Bonn-Tannenbusch.

Knoblauchs Aufgabe ist es, die verschiedenen Aktivitäten der Thomas-Morus-Gemeinde im Herzen des sozialen Brennpunkts zu koordinieren – seien es der Mittagstisch und die Kleiderstube, die Lebensmittelausgabe , die Flüchtlingshilfe oder der sogenannte Lotsenpunkt, an den sich Menschen mit Fragen zu Schulden, Suchtproblemen oder Sozialleistungen werden können. "Wenn ich ein Problem habe, dann wende ich mich an den Ralf Knoblauch", verkündet Rosanna Buhl. Sie ist wegen gleich mehrerer Rheuma-Arten an den Rollstuhl gefesselt. Wirklich behindertengerecht ist ihre Wohnung aber nicht. Knoblauch versucht, sich zu kümmern. "Ich bin einer der wenigen Diakone im Erzbistum Köln, die ausschließlich im sozialen Bereich arbeiten. Ich verkörpere sozusagen die Caritas in der Gemeinde", erklärt er. Nicht umsonst bedeutet der griechische Ursprung des Wortes Diakon "Diener" oder "Helfer". Schon in der römischen Frühkirche waren Diakone häufig in der Alten- und Krankenpflege tätig.

Die "No-Go-Area" Duisburg-Marxloh

Rund 100 Kilometer nördlich von Bonn-Tannenbusch arbeitet Pater Oliver Potschien. Auch er versteht sich als eine Art "christlicher Sozialarbeiter", auch er kennt mehr oder weniger passende Spitznamen für seinen Bezirk: Als vermeintliche "No-Go-Area" ist Marxloh über die Grenzen Duisburgs hinaus bekannt. Pater Oliver regen solche Bezeichnungen auf. "Marxloh ist keine Idylle, aber ich finde es unverantwortlich, mit solchen Begriffen um sich zu werfen. Versuchen Sie mal, als Jugendlicher mit einer Marxloher Adresse eine Ausbildungsstelle zu finden", ärgert er sich. Sein sozialpastorales Zentrum Petershof bekam 2015 als erste Initiative überhaupt den  Katholischen Preis gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel, die im gleichen Jahr den Stadtteil besuchte, berichtete der Ordensmann schon von seinem Projekt.

Potschien, seine rund 30 überwiegend muslimischen Mitarbeiter und die gut 100 ehrenamtlichen Helfer versuchen, mit ihrem Angebot flexibel auf das zu reagieren, was gerade gefragt ist: Sprachkurse für Flüchtlinge finden hier statt, kurzfristig bekamen Roma-Kinder sogar einen Raum für Schulunterricht, es gibt eine Notfallunterkunft für Obdachlose, eine Musikwerkstatt und Boxtraining für Kinder. Bis vor kurzem gab es  auch eine medizinische Ambulanz am Petershof, die jetzt die Malteser Migranten Medizin übernommen hat. Ein kleines Tiergehege und der verleihbare Imbisswagen "Peters Wurstparadies" sollen auf ihre Weise dazu dienen, Menschen zusammenzubringen.

Kirche St. Thomas Morus in Bonn
Bild: ©katholisch.de

Die moderne, weiß verputzte Kirche St. Thomas Morus in Bonn-Tannenbusch wurde 1984 erbaut.

Sowohl Pater Oliver als auch Diakon Ralf Knoblauch wollen Sozialarbeit und Pastoral verbinden. Nach Knoblauchs Erfahrung "wissen die Leute schon ganz genau, dass ich nicht der Sozialarbeiter der Stadt, sondern der Mann von der Kirche bin". Gefragt nach dem Selbstverständnis, mit dem er seine Arbeit im sozialen Brennpunkt angeht, fällt immer wieder das Stichwort von der Würde des Menschen. "Jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes, auch wenn es ihm dreckig geht", erklärt Knoblauch: "Die Menschen, mit denen ich arbeite, spüren genau, ob man sie so respektiert, wie sie sind oder ob es da vielleicht ein 'Von-Oben-herab' gibt."

Wie verletzliche Könige

Diese Grundeinstellung drückt der gelernte Tischler Knoblauch auch in den Holzfiguren aus, die er regelmäßig schnitzt und ausstellt. "Alle Figuren sind Könige, aber keine machtvollen, herrschaftlichen, sondern verletzliche Könige, die ausdrücken sollen: Die eigene Würde macht erstmal jeden Menschen zum König", erklärt Knoblauch. Morgens früh, zwischen fünf und sechs Uhr, wenn alle noch schlafen, arbeitet der Familienvater an den Figuren — und zieht aus dieser Zeit auch Kraft für seinen ungewöhnlichen Job.

Pater Oliver begründet sein Engagement in Duisburg-Marxloh mehr auf der theologischen Ebene. "Spätestens seit der Enzyklika Deus Caritas Est – Gott ist die Liebe - von Papst Benedikt XVI. ist doch klar, dass der Liebesdienst und die Eucharistie zwei Seiten einer Medaille sind. Wer sollte denn Sozialarbeit leisten, wenn nicht ein Priester? Und als solcher bin ich hier für jeden klar erkennbar", sagt er. Im Stadtteil nennen sie ihn sogar den "Papst von Marxloh" – wegen des strahlend weißen Prämonstratenser-Habits.

Von Gabriele Höfling