Ex-Verfassungsrichter: Kreuz-Erlass ist verfassungswidrig
Der frühere Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm hält den bayerischen Kreuz-Erlass für verfassungswidrig. Laut Grundgesetz dürfe der Staat in Glaubensfragen nicht Partei ergreifen, sagte er der "Süddeutschen Zeitung" (Donnerstag). "Vielmehr hat er sich gegenüber den verschiedenen Religionen neutral zu verhalten. Gegen diese Neutralitätspflicht verstößt er, wenn er Kreuze in Amtsräumen anordnet." Grimm war als Richter maßgeblich beteiligt am Karlsruher Kruzifix-Urteil von 1995.
Kreuz nicht nur Ausdruck bayerischer Tradition
Grimm wandte sich gegen das Argument, das Kreuz sei lediglich Ausdruck einer bayerischen Tradition. "Das Kreuz ist nun einmal für den Christen und die christlichen Kirchen das zentrale Glaubenssymbol", sagte er. "Wenn die Regierung die Anbringung des Kreuzes anordnet, kann sie diesen Sinngehalt nicht ausblenden. Er schwingt stets mit." Ein Kreuz sei etwas anderes als die Gemälde mit religiöser Thematik, die heute in den staatlichen Museen hängen, oder die kirchliche Musik, die in Konzertsälen gespielt wird.
Nach Einschätzung des früheren Verfassungsrichters haben diejenigen Kirchenvertreter, die in den Neunzigerjahren das Kreuz in den Schulen vor allem mit Verweis auf die abendländische Tradition verteidigten, eine Verharmlosung ihres zentralen Glaubenssymbols in Kauf genommen. "Inzwischen scheinen die Kirchen besser verstanden zu haben, was auf dem Spiel steht, wenn der Staat sich im Namen des Kreuzes in profanen Gebäuden darstellt und behauptet, das habe nichts mit Religion zu tun.
Grimm: Kirchen können bei einer solchen Umarmung nur verlieren
Mit Blick auf Osteuropa und Russland, wo der Staat zunehmend auf christliche Symbole zurückgreift, sagte Grimm, Staaten nutzten gern fremde Legitimationsreserven - insbesondere, wenn die eigenen schwächelten. Die Kirchen könnten bei einer solchen Umarmung nur verlieren. Eine weltanschaulich zunehmend pluraler werdende Gesellschaft zwingt den Staat nach Überzeugung des Juristen dazu, in Glaubenssachen nicht Position zu beziehen. "Nur so kann er glaubwürdig für sich beanspruchen, friedliche Koexistenz zu fördern. Einseitige Identifizierungen mit einer Religion und damit gleichzeitig Ausgrenzungen anderer Religionen erschweren diese Aufgabe, statt sie zu erleichtern."
Grimm vertritt damit eine andere Position als der ebenfalls ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio. Der sagte der Wochenzeitung "Die Zeit" vor rund zwei Wochen: "Von einer klaren Verfassungswidrigkeit des Söderschen 'Kreuzzugs' mit der verwaltungsinternen Vorschrift, im Eingangsbereich von Dienststellen des Landes ein Kreuz anzubringen", könne mit Blick auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts "keine Rede sein". Von einem schlichten Kreuz gehe keine "weltanschauliche oder religiöse Indoktrination" aus; entsprechend sei die neue Regelung mit dem Grundgesetz konform, so di Fabio. (bod/KNA)