Ordensfrau, 85, täglich auf dem Fahrrad
"10 Minuten." So lange braucht Schwester Thiatild, um vom Kloster bis zur Mariengrotte zu gelangen. Diese kleine Grotte mit der Lourdes-Madonna liegt auf dem Klostergelände der Franziskanerinnen von Lüdinghausen in der Nähe von Münster. Täglich schwingt sich Schwester Thiatild auf das Fahrrad. Am liebsten fährt sie durch den Klosterpark zur Grotte. In ihrem Fahrradkorb liegen Gartenwerkzeuge, frische Blumen. In der Hand hält sie eine rote Kerze. Thiatild fährt so langsam mit dem Rad, dass sie jederzeit stehen bleiben kann, falls sie einer Mitschwester begegnet. Das Klosterfahrrad hat die gleiche Farbe wie der Habit, den sie trägt: Braun. Bei der Grotte angekommen, zündet sie gleich ihre Kerzen an und wechselt die Blumen in der Vase aus. Während sie betet, bleibt das Fahrrad vor der Grotte stehen. Manchmal setzt sie sich noch auf die Parkbank vor die Grotte, um zu verweilen, bevor sie wieder mit dem Fahrrad zurück ins Kloster fährt.
Auch mit 85 Jahren ist das Fahrradfahren für die Schwester ganz normal. Schon als Kind habe sie dies getan, damals im Krieg. Es gab keine Autos und nur wenige Fahrräder. Weil Maria Keuper, so hieß Schwester Thiatild vor ihrem Klostereintritt, die älteste Tochter der Familie war, besaß sie ein eigenes Fahrrad. "Damit ich schneller von der Schule wieder nach Hause kam", erklärt sie. Das waren schließlich über drei Kilometer Fahrt. "Wir waren eine große Familie mit einem Bauernhof, der bewirtschaftet werden musste. Da wurde jeder, der mitgeholfen hat, gebraucht", so die Ordensfrau.
Es war eine arme Zeit, erzählt sie weiter. Sie kämpft mit den Tränen. Die Mutter erkrankte früh an Krebs und verstarb bald. Nun rollen ihr die Tränen über die Wange. "Da ich die älteste von sechs Geschwistern bin, habe ich meinem Vater versprochen noch fünf Jahren zu Hause zu bleiben, um mich um die jüngeren Geschwister zu kümmern." Sie erinnert sich gut daran, dass sie damals lieber ins Kloster gehen wollte. Die fünf Jahre Wartezeit war für sie die schwerste Zeit in ihrem Leben. "Ich spürte meine Berufung ganz deutlich, aber ich konnte meine Familie nicht im Stich lassen." Das Gebet half ihr damals durch diese Zeit. Ein Wort des Vaters fällt ihr ein: "Gott braucht nicht unser Gebet, aber wir brauchen es." In diesen fünf Jahren fiel ihr zufällig ein Text von Elisabeth Manlettner in die Hände. Bis heute berühren sie die Anfangsworte sehr. Sie hat sie auf Pergamentpapier aufgeschrieben. Leise liest sie vor:
"Wir tragen durch die Zeit den Leib des Herrn in kleinen dunkeln Seelen. Auf müden schwachen Händen in Herzen der Armseligkeit. Ob sie ihn wohl in uns erkennen, die da vorüberhasten, im Licht des Tages, im Lärm der Straßen. Ob wir wohl leuchtend sind von ihm und seiner Liebe, dass warm wird alle Kälte aller Herzen. Gelindert werden alle Nöte, alle Schmerzen. Herr, schenk die eine Gabe und lass uns sanft sein für deine Gnade."
Genau fünf Jahre nach dem Tod der Mutter, im Jahr 1962, an einem Herz-Jesu-Freitag, trat sie bei den Franziskanerinnen in Lüdinghausen ein. Der Termin war für sie kein Zufall. "Meine Mutter hat dazu bestimmt ihre Zustimmung vom Himmel aus gegeben", meinet Schwester Thiatild. Sie selbst habe an der Echtheit ihrer Berufung nie gezweifelt. Damals war sie 27 Jahre alt. Ihrer Ansicht nach, sei das schon spät für einen Klostereintritt gewesen. Damals sei man viel jünger eingetreten. Die Umstellung von der Großfamilie in die Klostergemeinschaft fiel ihr leicht. Sie komme mit den Mitschwestern gut aus, sagt sie. Anfangs waren noch 80 Schwestern im Kloster. Heute sind es viel weniger. Was ihr auffällt, dass die Regeln im Kloster damals deutlich strenger als heute waren. Auch was die Ordenskleidung betraf.
Auch eine ihrer leiblichen Schwestern sei Ordensfrau geworden, eine Missionarin auf der Südsee in Papua-Neuguinea. "Sie hatte mehr Abenteuerlust als ich", erklärt Schwester Thiatild. Das war eine andere Welt, sie selbst wollte lieber in Deutschland bleiben. Vor sechs Jahren ist ihre Schwester verstorben.
Wie Schwester Thiatild zu ihrem Ordensnamen kam? Der sei ihr geschenkt worden, erzählt sie. Obwohl es schon damals die Möglichkeit gab, sich selbst drei Namen auszuwählen und orzuschlagen, habe sie sich lieber überraschen lassen wollen. "Ich dachte mir", erzählt sie, "lass die anderen mal überlegen, was zu mir passt." Der Name, den sie dann bekam, war wie ein Geschenk für sie: Thiatild heißt nämlich eine Volksheilige aus dem Bistum Münster. Der Name passte zu ihr und die Heilige sei ihr ein Vorbild im Glauben geworden. Für sie war dieser Name sogar eine Bestätigung für ihren Lebensweg. "Es lohnt sich, Gottvertrauen zu haben und auch mal die anderen machen zu lassen", lacht sie.
Heute lebt sie seit knapp 60 Jahren im Kloster. Ihre Goldene Profess war ein richtig schönes Familienfest, so ie Franziskanerin. Viele ältere Mitbewohner aus dem Seniorenheim, das auf dem Klostergelände steht, sind gekommen. Schwester Thiatild war dort für viele Jahre als Altenpflegerin tätig und sehr beliebt. Diese Arbeit habe sie erfüllt. "Da habe ich so richtig gespürt, dass ist den richtigen Beruf gewählt habe", beteuert sie. Man bekomme von alten Menschen so viel zurück.
"Ich war immer da, wo ich gebraucht wurde. Meinen Dienst als Altenpflegerin habe ich mit ganzem Herzen gemacht", sagt sie weiter. Und ihr starker Glaube habe nicht nur sie selbst, sondern auch andere durch die Dunkelheiten und Grenzerfahrungen des Lebens getragen. All das gehöre doch zur menschlichen Reifung dazu.
In ihrem Zimmer hat sie eine Mappe mit gesammelten Gebeten. Die Texte hat sie in Handschrift auf farbige Blätter geschrieben. Daneben sind kleine Zeichnungen zu erkennen. Bereits im Noviziat habe sie die Kaligrafie fasziniert, erzählt sie. "Ich habe versucht mein Lebensprogramm Buchstabe für Buchstabe aufs Papier zu bringen und zugleich ganz tief in mein Herz zu schreiben. Hier hat es seinen Platz", schwärmt sie. Eines der Gebete mag sie besonders gerne. Sie liest es vor:
"Denk du in mir o Jesus, dann denk ich licht und klar. Sprich du aus mir o Jesus, dann sprech ich mild und wahr. Wirk du durch mich o Jesus, gerecht ist dann mein Tun. Geheiligt meine Arbeit, geheiligt auch mein Ruhn. Durchdring mein ganzes Wesen, erfülle mein ganzes Sein, so dass man aus mir kann lesen, die große Liebe dein. Amen."
Nun schweigt sie lange. Der Text bewegt sie. Wieder rollt eine Träne über ihre Wange. Sie hält die Augen geschlossen. Den Text kann sie auswendig, weil sie ihn bei jeder Gelegenheit bete, erklärt sie. Er, Jesus Christus, sei ja immer bei ihr. "Schon meiner Mutter war es ein Anliegen, viel mit uns Kindern zu beten, nicht nur am sogenannten Priesterdonnerstag oder am Herz-Jesu-Freitag." Sie hält kurz inne. "Ja, was mach ich denn da", sagt sie, "jetzt heule ich schon wieder". Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Sie steckt das Taschentuch weg und schließt wieder die Augen. "Was ist denn heute mit mir los", entschuldigt sie sich.
"Dass ich dem Herrgott so vertrauen kann, erfüllt mich mit großer Freude." Sie sei oft in ihrem Leben überrascht gewesen, wie und wohin der Herr sie geführt habe. Oft so ganz anders, als sie sich das vorgestellt habe. Aber es war immer gut, freut sie sich. Zufrieden blickt sie aus dem Fenster ihrer Klosterzelle. Dort hinten im Park steht die Mariengrotte. Seit über 20 Jahren kümmert sie sich um dieses kleine Heiligtum inmitten des Klostergeländes. Aus Dankbarkeit. Und weil das Klosterfahrrad ihr dabei helfe, so schnell dahin zu gelangen. Jetzt lacht sie fröhlich auf.