Eberhard Tiefensee sieht wachsendes Interesse an "Spiritual Care"

Philosoph: Atheistische Spiritualität boomt

Veröffentlicht am 30.06.2018 um 09:34 Uhr – Lesedauer: 
Atheismus

Erfurt ‐ Spiritualität für Atheisten? Laut Philosoph Eberhard Tiefensee bezeichnen sich immer mehr Ungläubige als spirituell. Ein Trend, der besonders in der Medizin Folgen hat.

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Spiritualität rückt nach Ansicht des Religionsphilosophen Eberhard Tiefensee auch im atheistischen Umfeld immer stärker in den Fokus. Besonders im Erziehungs- und Gesundheitswesen stellten sich dahingehend "neuerdings dringlicher werdende Anforderungen", sagte der Priester bei seiner Abschiedsvorlesung am Freitagabend an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Erfurt. Vor allem in der Palliativmedizin gebe es ein wachsendes Interesse an "Spiritual Care", also spiritueller Versorgung.

Studien zeigten, dass Spiritualität auch jenseits von religiösen Vorstellungen Einfluss auf die Lebenqualität habe, erläuterte Tiefensee. So fordere auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Menschen als ganzheitliche Wesen mit eben auch spirituellen Bedürfnissen wahrzunehmen. Tiefensee zitierte aus einer WHO-Broschüre: "Alle Menschen haben ein Recht, bei schwerer Krankheit eine hochqualifizierte Versorgung zu erhalten und auf einen würdigen Tod, frei von erdrückendem Schmerz und in Übereinstimmung mit ihren spirituellen und religiösen Bedürfnissen."

Tiefensee: "Spiritualität ist ein schwer abgrenzbares Phänomen"

Auch im Erziehungswesen gebe es ähnliche Entwicklungen, konstatierte Tiefensee. So habe die UN-Generalversammlung bereits 2002 festgehalten: "Wir werden die körperliche, psychologische, spirituelle, soziale, emotionale, kognitive und kulturelle Entwicklung der Kinder als Angelegenheit nationalen und weltweiten Vorrangs fördern."

Tiefensee räumte ein: "Spiritualität ist ein schwer abgrenzbares Phänomen, atheistische umso mehr." Er selbst habe unterschätzt, was eine aktuelle soziologische Studie zur Spiritualität in Deutschland gezeigt habe: "Im konfessionslosen Osten bezeichnet sich fast die Hälfte derer, die sich selbst als Atheisten deklarieren, als religiös oder spirituell." Es bestätige dabei allerdings auch, dass "jeder etwas anderes unter Spiritualität versteht".

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"Wir wollen mit den Konfessionslosen ins Gespräch kommen" - das ist einer der Ansprüche dieses Katholikentags in der ostdeutschen Diaspora. Doch nicht jedes Veranstaltungsformat eignet sich dafür. (Artikel vom Mai 2016)

Zugleich warnte Tiefensee vor einer Abqualifizierung der "stammelnden Texte" derjenigen, die über ihre atheistische Spiritualität zu sprechen versuchen. Denn es verweise auch auf ein "Grundproblem aller Theologie, die sich diesen Namen verdienen will: Gestammel zu sein und zu bleiben angesichts eines letztlich Unsagbaren."

Der Dekan der katholisch-theologischen Fakultät, Thomas Johann Bauer, würdigte Tiefensees Wirken als Professor für Philosophie seit 1997 in Erfurt. Auch in schwierigen Zeiten habe er sich der Aufgaben und Herausforderungen der katholischen Theologie mit großem Engagement und Hingabe angenommen und dafür "viel Achtung und Vertrauen erfahren". Sein Ausscheiden aus dem Professoren-Kollegium hinterlasse eine große Lücke, so Bauer.

Tiefensee war erster Dekan der 2002 gegründeten katholisch-theologischen Fakultät an der staatlichen Universität Erfurt, die aus dem "Philosoph-Theologischem Studium" hervorging, der einzigen akademischen Ausbildungsstätte für katholische Theologen in der DDR. Erfurt hat bis heute die einzige katholisch-theologische Fakultät in Ostdeutschland. (KNA)