Warum viele Gläubige den türkischen Präsidenten unterstützen

Erdogan und die Christen

Veröffentlicht am 30.06.2018 um 13:25 Uhr – Lesedauer: 
Türkei

Istanbul ‐ Nach dem Wahlsieg Erdogans und seiner islamisch-konservativen Partei AKP befürchten Beobachter, dass sich das Land immer mehr zu einem Gottesstaat entwickelt. Viele Christen in Istanbul sehen das hingegen anders.

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"Also ich hätte Erdogan gewählt", da ist sich Herr Meier, ein deutscher Katholik, der schon lange in Istanbul lebt, sicher. In Wirklichkeit heißt der Mann anders. Weil Herr Meier aber Sorge vor Hasstiraden aus Deutschland hat, möchte er lieber anonym bleiben. "Tragisch" sei das, sagt er und schüttelt den Kopf. "Wenn ich nur erzähle, dass es mir gut geht in der Türkei und ich meinen Glauben frei leben kann, werde ich in Deutschland schon schief angesehen." Herr Meier fühlt sich dann von seinen Landsleuten fast ein bisschen diskriminiert. Er hat sich bewusst für die Türkei entschieden. Sein Glaube habe dabei eine große Rolle gespielt, sagt er; immerhin ist die Türkei die geographische Wiege des Christentums. "In Deutschland glaubt mir das keiner, aber ich fühle mich in Istanbul nicht aufgrund meines Glaubens verfolgt", sagt Herr Meier. Weiter im Osten des Landes könne das natürlich anders sein, gibt er dann zu. "Oft spielen dann aber auch andere Faktoren eine Rolle, wie die Nationalität oder der wirtschaftliche Status", bemerkt er.

Recep Tayyip Erdogan, der alte Präsident und neue Staats- wie Regierungschef der Türkei, steht für Herrn Meier auf einer Stufe mit Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi oder Robert Schumann. "Ein echter Staatsmann und Vertreter der Demokratie eben - nicht so ein Oligarch wie die von der sozialdemokratischen Opposition", findet der Wahl-Istanbuler, der sich in der Türkei zur Ruhe gesetzt hat. Vor allem für die Christen hätten Erdogan und seine Partei für Entwicklung und Gerechtigkeit (AKP) viel getan: "Viele orthodoxe Kirchen in Istanbul wurden zum Beispiel mit staatlichen Mitteln renoviert!".

Bild: ©Marion Sendker

Altar der Kirche der österreichischen Gemeinde St. Georg in Istanbul.

Nur der Dialog der österreichischen Gemeinde mit den Muslimen sei unter Erdogan "gegen die Wand gefahren worden": Nach dem Putschversuch im Juni 2016 kam nämlich heraus, dass viele der Muslime, die im interreligiösen Dialog engagiert waren, der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen - der noch immer von der Regierung als Verantwortlicher für die Ereignisse im Juni 2016 gesehen wird - nahe stehen sollen.

Dass aber seit den Wahlen am 24. Juni nun auch die Verfassungsreform in der Türkei vollumfänglich in Kraft getreten ist und die größte Systemänderung des Landes seit ihrer Gründung im Jahr 1923 herbeigeführt wurde, hält er für wenig problematisch. "Andere Nationen machen dasselbe", sagt Herr Meier und meint damit etwa die Vereinigten Staaten von Amerika. Zwar steht der US-Präsident von Verfassungswegen im Zentrum der politischen Macht und ist, wie in der Türkei, Staats- und Regierungschef. Aber: Anders als in der Türkei wird die Macht des amerikanischen Präsidenten durch ein System sich gegenseitig hemmender Gewalten begrenzt.

Warum sind so viele nicht gegen Erdogan?

So wie Herr Meier sehen viele deutschsprachige Christen in Istanbul die Situation nach den Wahlen. Sie haben keine schlechten Erfahrungen gemacht in der Türkei, und wenn, dann eher aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit; nicht aber weil sie Christen seien. "Leben und leben lassen", ein bisschen kölsches Lebensgefühl am Bosporus?

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Rede in Ankara.
Bild: ©picture alliance / AA / Kayhan Ozer

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Rede in Ankara.

Um das zu verstehen, muss klar, sein, in welcher Situation sich die christlichen Konfessionen in der Türkei befinden: Sie stellen eine Minderheit dar, deren jeweiliger rechtlicher Status gar nicht so leicht zu eruieren ist. Grundlage ist der Vertrag von Lausanne, der seit 1923 allen "nicht-muslimischen Minderheiten" einen besonderen Schutz garantiert. In der Praxis sind davon aber manche Gruppen, wie zum Beispiel die Aramäer, ausgeschlossen. Hinzu kommt, dass Juden, Griechen und Armenier vor mehr als 90 Jahren auf den rechtlichen Status einer Körperschaft verzichtet haben. Man ging damals davon aus, dass das türkische Zivilrecht ausreichend sei. Im Alltagsleben war damit aber nicht viel zu gewinnen. Denn das Zivilrecht gilt insbesondere für türkische Staatsbürger - und damit nicht für die vielen Christen in der Türkei, die zum Beispiel Deutsche, Österreicher, Italiener, Franzosen oder Griechen sind. Ein Fehler, der sich bis heute wie ein roter Faden durch den Dialog der Kirchen mit dem Staat zieht? "Das kann gut sein", bemerkt Alexander Jernej, Pfarrer der österreichischen Gemeinde St. Georg in Istanbul und momentan der Zuständige für die deutsche Gemeinde St. Paul. Man sei durch die Jahrzehnte hinweg sehr restriktiv gewesen und kaum mit konkreten Forderungen an die Regierung herangetreten.

Religionsfreiheit ist in der Türkei keine Frage der "political correctness"

Diese vorsichtige Haltung scheint fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses der Christen in der Türkei zu sein. Denn schon lange vor Gründung der Republik durch den "Türkenvater" Mustafa Kemal Atatürk waren sie in der Unterzahl; ihre Existenz als christliche Gemeinde hing stets von Sultans Gnaden ab. Wenn Christen in der Türkei sich also nicht öffentlich über eine Regierung beschweren, die in westlichen Ländern als "diktatorisch" oder im besten Falle "populistisch" beschimpft wird, dann steht diese Haltung auch im Kontext der Existenzsicherung.

Religionsfreiheit ist in der Türkei keine Frage der "political correctness". In einem Land, das mehr Moscheen hat, als jede andere Nation der Welt - nämlich gut 90.000 - muss sich das christliche Selbstverständnis nicht in Form von Kreuzerlassen oder Kommunionstreitigkeiten offenbaren.

Religionsfreiheit für Christen in der Türkei zeigt sich vielmehr zum Beispiel in den vielen Gottesdiensten, die täglich auf verschiedenen Sprachen stattfinden und stattfinden dürfen. Dazu müssen die Christen in der Türkei auch nicht, wie zum Beispiel im muslimischen Katar, auf vom Staat bereitgestellte Grundstücke ausweichen, sondern haben überall im Land ihre Kirchen. Zwar gibt es vor allem im Osten der Türkei noch einige juristische Streitigkeiten um Kirchen und Klöster, aber auch da bewegt sich was - dem politischen Druck aus der EU und Vereinen im Ausland sei Dank: Allein in diesem Jahr sollen gut 50 Parzellen wieder offiziell ins Eigentum der syrisch-orthodoxen Kirche übergegangen sein.

Bild: ©Marion Sendker

Ökumenische Feier in der Kirche Santa Maria Draperis.

Es gilt also eine Art Religionsfreiheit ala turca. Ein weiteres Beispiel dafür weiß Maya, eine junge Katholikin aus Deutschland: "In der Türkei kann ich meinen Glauben offener leben als in Deutschland", sagt sie. Maya ist manchmal beruflich in der Türkei. Während sie sich zu Hause oft rechtfertigen müsse, dass sie in die Kirche geht, sei das in Istanbul kein Problem. "Manchmal kommt einer meiner muslimischen Freunde sogar mit und fragt, warum wir was machen." Die Menschen seien grundsätzlich religiöser als in Deutschland und hätten deswegen mehr Respekt für Religionsausübung im Allgemeinen.

Des Brot ich ess, des Lied ich sing?

"Wir leben von Augenblick zu Augenblick. Das war früher so und das wird sich nicht ändern", fasst Jerney von der katholischen Gemeinde zusammen. Aus der Politik wollen sich die Katholiken am liebsten heraushalten. "Es gibt Gesetze, an die halten wir uns und dann können wir hier auch ganz gut leben", sagt Jernej. Anders läuft es indes bei der griechisch-orthodoxen Kirche: Ihr Oberhaupt, Patriarch Bartholomaios, der seinen Sitz im ehemaligen Konstantinopel hat, pflegt gute Beziehungen zu Erdogan. Er scheint dessen Politik sogar zu unterstützen, etwa was die "Operation Olivenzweig" angeht; eine international als völkerrechtswidrig bewertete Militäroffensive der Türkei gegen die im syrischen Afrin lebenden Kurden. In einem öffentlichen Brief sprach sich Bartholomäus Anfang des Jahres für das Wohl und einen Sieg der türkischen Soldaten aus. Als Oberhaupt seiner Kirche stellt er aber auch Forderungen an die Politik: Die Situation der Schule von Chalki oder die rechtlich Form des Oberpatriarcharts sind nur zwei Punkte auf der To-Do-Liste der griechisch-orthodoxen Kirche in der Türkei, die nicht ohne die Regierung bearbeitet werden können. Da wäre es töricht, würde er es sich mit Erdogan verscherzen - gerade jetzt, wo sein Amt dem eines Sultans im Osmanischen Reichs nahe kommt.

Von Marion Sendker