Die Rache des Papstes
Wenn der Berliner Fernsehturm in der Sonne glänzt, ist es nicht zu übersehen: Das große Lichtkreuz auf der Außenhülle der silbernen Turmkugel. Rund 200 Meter über dem Alexanderplatz strahlt das bekannteste Symbol des Christentums – geformt aus zahlreichen hell leuchtenden Punkten – bei gutem Wetter als Reflexion der Sonnenstrahlen weit über die wenig christliche Hauptstadt.
Der Effekt, der das Kreuz auf der Kugel sichtbar werden lässt, mag die Christen in der Stadt erfreuen – von den Erbauern des Fernsehturms war er nicht beabsichtigt und nicht gewollt. Im Gegenteil: Das SED-Regime, das den Turm von 1965 bis 1969 im Zentrum Ost-Berlins errichten ließ, wollte mit dem insgesamt 365 Meter hohen Gebäude die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Westen demonstrieren. "Hier steht die DDR, wir sind die Größten", fasste der Berliner Historiker Peter Müller vor einigen Jahren in der "Berliner Morgenpost" die Motivation der DDR-Oberen für den Bau plakativ zusammen.
Der erhoffte Propagandaerfolg wurde zum Super-GAU
Doch aus dem erhofften Propagandaerfolg wurde nichts – und Schuld war das Lichtkreuz. Als es nach der Fertigstellung des Turms erstmals auf der Kugel sichtbar wurde, soll der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht getobt haben. Schließlich war das christliche Zeichen für das atheistische und kirchenfeindliche Regime ein rotes Tuch. Dass das Kreuz auf dem Prestigebau der DDR auftauchte, war für die SED-Oberen der Super-GAU.
Schnell wurde die Angelegenheit zu einem Fall für das Ministerium für Staatssicherheit. Ein Inoffizieller Mitarbeiter (IM) mit dem Decknamen "John" wurde angesetzt, um das Phänomen zu ergründen und Vorschläge für eine Lösung des Problems zu erarbeiten. Am 25. Juni 1969 schlug er vor, die Kreuzbildung auf dem Turm durch eine Lichtbrechung zu beseitigen. "Die entsprechenden praktischen Maßnahmen könnten gemeinsam mit der Reinigung der Kugel erfolgen, so dass eine Bevölkerungsdiskussion weitgehend ausgeschlossen werden könnte", so der IM in einem Brief an seinen Verbindungsoffizier.
Diese Pläne wurden zwar nicht direkt weiterverfolgt, trotzdem setzte die DDR-Führung alle Hebel in Bewegung, um dem Kreuz auf der Kugel zu Leibe zu rücken. Diskutiert wurde unter anderem, die Kugel abzuschleifen oder mit dunklem Kunststoff zu überziehen. Das immer wieder kolportierte Gerüchte, das Regime habe sogar über einen Abriss des Fernsehturms nachgedacht, ist jedoch nicht belegt.
Der Kosename "Telespargel" stammt von der SED
Während die DDR-Oberen noch nach einer Lösung suchten, sorgte das Lichtkreuz im Westen für Hohn und Spott. Schnell wurde das Kreuz mit Blick auf das religionsfeindliche SED-Regime als "Rache des Papstes" oder – in Anspielung an seinen Erbauer Walter Ulbricht – als "Sankt Walter" bezeichnet. Das Regime versuchte, gegen den Spott aus dem Westen den Kosenamen "Telespargel" in der Bevölkerung durchzusetzen – und scheiterte kläglich. "Vielleicht auch deshalb, weil Spargel damals für uns Ossis kaum zu kriegen war. Fast die ganze Ernte wurde gegen Devisen in den Westen verkauft", so Historiker Müller.
Doch warum erscheint das Kreuz überhaupt auf der Turmkugel? Ursache des Effekts sind die Architektur der Kugel und das verwendete Baumaterial. Weil der Fernsehturm dem "Sputnik"-Satelliten der Sowjetunion nachempfunden werden sollte, wurde für die Außenverkleidung der 4.800 Tonnen schweren Kuppel rostfreier, silbern glänzender Edelstahl (Marke "Nirosta") verwendet.
Da es jedoch gleichzeitig notwendig war, die Luftverwirbelung in 200 Metern Höhe zu vermindern und ein zu starkes Schwanken der Kugel bei Wind zu unterbinden, wurden rund 1.000 pyramidenförmige Hauben auf die Außenverkleidung aufgesetzt. "Sie vergrößern die Rauheit der Oberfläche und verringern damit die Angriffsfläche für Winde", so Müller. Während die Spiegelung der Sonne auf einer reinen Kugelform kreisförmig wäre, reflektiert die spezielle Anordnung der Pyramiden auf der Kugel das Licht in Kreuzform. Laut Müller "ein wirkliches Zufallsprodukt".
Und mit diesem Zufallsprodukt – auch die Stasi fand trotz intensiver Suche keine Beweise für Sabotage – musste sich die DDR-Führung wohl oder übel arrangieren. Alle Überlegungen zur Lösung des Kreuz-Problems erwiesen sich letztlich als nicht machbar oder zu teuer. Dass die SED in späteren Jahren versucht hätte, dass Lichtkreuz auf der Kuppel ihres Prestigebaus in ein "Plus für den Sozialismus" umzudeuten, wie es die Anekdote will, ist übrigens nicht verbürgt.
Auch US-Präsident Reagan sprach über das Lichtkreuz auf dem Turm
1987, als das Kreuz schon fast 20 Jahre auf der Kuppel zu sehen war, gelangte es noch einmal auf die Bühne der Weltpolitik. US-Präsident Ronald Reagan erwähnte das Symbol in seiner berühmt gewordenen Rede vor dem Brandenburger Tor ("Mr. Gorbachev, tear down this wall!"). Mit Blick auf den Fernsehturm sagte Reagan: "Vor einigen Jahren errichteten die Ostdeutschen ein säkulares Bauwerk: den Fernsehturm am Alexanderplatz. Praktisch von Anfang an arbeiteten die Behörden daran, die aus ihrer Sicht größte Schwachstelle des Turmes zu korrigieren und die Glaskugel mit Farbe und Chemikalien aller Art zu behandeln. Und dennoch, wenn heute die Sonne auf jene Glaskugel fällt – die Kugel, die über ganz Berlin thront –, dann zeichnet das Licht das Zeichen des Kreuzes."
Kurz danach ging die Geschichte der DDR zu Ende. Der Fernsehturm mutierte in den folgenden Jahren vom sozialistischen Vorzeigebau zu einem der bekanntesten und beliebtesten Bauwerke des wiedervereinigten Berlins. Heute besuchen jährlich rund 1,2 Millionen Menschen das höchste deutsche Gebäude. Und wohl die meisten von ihnen dürften staunen und sich freuen, wenn sie bei Sonnenschein das Kreuz auf der Silberkugel entdecken.
Der Artikel ist erstmals im August 2018 erschienen.