Als bei der Predigt noch die Performance zählte
Zusammen mit Wissenschaftlern der Uni Tübingen und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel erforscht Literaturwissenschaftler Weigand, was die Menschen an Tauler so begeisterte. Dabei gibt es ein Hindernis: Da Taulers Predigten erst im Nachhinein verschriftlicht wurden, ist der eigentliche Wortlaut oft gar nicht bekannt.
Frage: Herr Professor Weigand, Sie sagen, Predigten seien die Massenmedien des Mittelalters. Wie soll das noch vor Erfindung des Buchdrucks ohne Mikrophone und Internet funktioniert haben?
Rudolf Weigand: Im Vergleich zur Gegenwart ist der Begriff "Massenmedium" natürlich relativ. Aber stellen Sie sich mal die Kommunikationsmöglichkeiten des Mittelalters vor: Wer hatte damals überhaupt die Chance, eine größere Anzahl an Zuhörern an einem Ort zu versammeln? Nur die Prediger, sei es in der Kirche oder eben auf großen Plätzen. Etwas Ähnliches gab es sonst nicht. Fürstenversammlungen wurden nur zu bestimmten Anlässen einberufen, aber Gottesdienste fanden regelmäßig statt. In diesem Sinne kann man die Predigt als einziges Massenmedium und auch als einziges Schichten übergreifendes gesellschaftliches Event des Mittelalters bezeichnen. Über die Schrift Informationen an größere Kreise weiterzugeben, war jedenfalls keine Option. Lesen konnten die Wenigsten, und der Buchdruck wurde erst 1450 erfunden.
Frage: Wie haben sich die Predigten nach den einzelnen Vorträgen dann weiterverbreitet?
Weigand: In erster Linie hat sich der Ruf des Predigers weiterverbreitet. Wenn jemand gut war, dann hat das die Leute neugierig gemacht. Wichtig für eine gute Predigt war, sie nicht nur abzulesen, sondern auf die konkrete Situation und das Publikum einzugehen. Das Mittelalter war eine orale, auf das Hören und Sprechen fixierte Gesellschaft, die Menschen wollten mit dem Prediger kommunizieren. Manchmal haben die Prediger oder andere Mönche die Texte im Nachhinein aufgeschrieben. Aber das waren dann eben Handschriften – und damit Unikate.
Frage: Also hat die "Performance" des Predigers eine größere Rolle gespielt als heute?
Weigand: Ja, das zeigt ein Beispiel: Im 15. Jahrhundert hat der Wanderprediger Johannes von Capistran eine Predigtreise unternommen, um zum Kampf gegen die Türken aufzurufen. Er ließ seine Auftritte sorgfältig inszenieren, vorher etwa die Richtung des Windes prüfen oder eine Kanzel aus Holz aufbauen, damit alle Leute ihn sehen und hören konnten. Allerdings predigte er auf Latein, ein Großteil des Publikums hat ihn überhaupt nicht verstanden. Aber es war trotzdem gefesselt. Im Anschluss haben dann üblicherweise andere Mönche die Texte ins Deutsche übersetzt. Dann sind die Leute weggelaufen. Heute in der Popkultur ist das doch nicht anders: Als Kind in den 60er-Jahren habe ich die englischen Texte noch nicht verstanden, aber die Sänger fand ich toll. Und da war ich bestimmt nicht der Einzige.
Frage: Wenn die Predigten erst im Nachhinein verschriftlicht wurden, hat sich damit auch der Inhalt verselbständigt?
Weigand: Wenn es verschiedene Handschriften einzelner Predigten gab, haben die sich tatsächlich oft deutlich unterschieden. Was die Ursprungsversion war, lässt sich oft gar nicht so einfach erschließen. Das zeigt sich auch in unserem Projekt über den Dominikaner-Prediger Johannes Tauler: Von seinen Vorträgen gibt es zum Beispiel einen Basler Druck aus 1521/22, der nach Erfindung des Buchdrucks entstand. Es gibt aber auch Handschriften, die näher am Aufführungsdatum zu Lebzeiten Taulers von 1300 bis 1361 liegen, also noch vor dem Buchdruck. Wir wissen nicht, welcher Text näher am Original ist. Darauf kommt es zunächst aber auch gar nicht an. Uns ist es wichtig, die Wirkungsgeschichte von Taulers Predigten darzustellen und dafür bieten wir beide Texte kommentiert nebeneinander an. Tauler hat die Menschen ungeheuer beeindruckt — auch Martin Luther. Der Tauler-Hype ging teilweise soweit, dass Predigten, die für gut befunden wurden, aber gar nicht von ihm waren, trotzdem ihm zugeschrieben wurden. Es entstand so etwas wie eine Marke Tauler.
5 Tipps für gute Predigten
Predigen ist eine Kunst, doch längst nicht jeder Priester beherrscht sie. Wenn die Gläubigen permanent auf ihre Armbanduhren starren, ist das ein schlechtes Zeichen. Aber wie geht "gutes" Predigen?Frage: Was waren denn seine Qualitäten als Star-Prediger?
Weigand: Er hantierte nicht mit abgehobenen theologischen Begriffen, sondern formulierte die Dinge im Verständnishorizont seines Publikums. Dazu verwendete er Bilder und Vergleiche aus dem Alltag. Tauler sagte, die Gebete eines Bauern seien genauso viel wert wie die eines Ordensmanns. Sein Ringen um eine gute Predigt verglich er mit dem Handwerk eines Schusters, der sich bemüht, die besten Schuhe zu machen. Tauler hat wie auch später Luther "den Leuten aufs Maul geschaut".
Frage: Wie unterscheidet sich die Wirkung von Predigten damals und heute?
Weigand: Im 21. Jahrhundert steht die Predigt in einer unglaublichen Konkurrenz. Wenn sich heute ein Prediger in einer großen Stadt ankündigen würde, gäbe es am gleichen Abend noch mindestens zehn, fünfzehn andere kulturelle Ereignisse. Jeden Sonntag können die Menschen in einer von vielen Kirchen in den Gottesdienst gehen und sich eine Predigt anhören. Das macht es für den Einzelnen viel schwerer, herauszustechen. Die Kommunikation hat sich gewaltig verändert.
Frage: Hätte es die heutigen technischen Möglichkeiten damals schon gegeben, wie hätten Tauler und seine Altersgenossen sie dann wohl eingesetzt?
Weigand: Es gab im 20. Jahrhundert ja durchaus vergleichbare Bewegungen. In den 50er und 60er Jahren zog der Jesuitenpater Johannes Leppich mit seinen wortgewaltigen Predigten durch Deutschland. Lautsprecherwagen fuhren durch die Städte, Zehntausende wollten ihm zuhören. Das wäre mit heutigen Methoden natürlich nochmal anders. Es würde vor allem über das Fernsehen gehen. Aber die Andachten der einschlägigen katholischen Fernsehkanäle haben nicht so eine hohe Resonanz und wirken recht hausbacken. Eine neue Chance für die katholische Kirche, wieder Anteile an der Gesamtkommunikation zurückzugewinnen, bieten Social Media. Hier kann ich wieder Face to Face kommunizieren, auch wenn der andere gar nicht physisch vor mir steht.
Frage: Können sich Prediger heute ein Beispiel an den Predigern des Mittelalters nehmen?
Weigand: Das ist schwierig. Denn aus dem Mittelalter ist uns ja auch nur das Beste überliefert. Tauler hat sich einen guten Ruf erarbeitet. Deswegen sind seine Predigten noch heute bekannt. Die langweiligen Predigten haben schon damals niemanden interessiert. Das war im Mittelalter nicht anders als heute.
Forschungen zu Johannes Tauler
Johannes Tauler wurde im Jahr 1300 in Straßburg geboren. Er trat in den Prediger-Orden der Dominkaner ein und wurde einer der bekanntesten Theologen und Prediger seiner Zeit. Zusammen mit Heinrich Seuse und Meister Eckhart bildete er im 14. Jahrhundert das sogenannte "dominikanische Dreigestirn". Als Seelsorger von Nonnenkonventen dienten Taulers Predigten zur inneren Formung von Klostergemeinschaften. Aber auch vor dem einfachen Kirchenvolk hielt er Ansprachen zur religiösen Unterweisung. Nicht nur Martin Luther war von Tauler fasziniert. Noch im 19. Jahrhundert wurde sein Werk von Philosophen wie Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling aufgegriffen. Das aktuelle Forschungsprojekt ist auf sechs Jahre ausgerichtet und will zum Neuverständnis von Taulers Wirkungsgeschichte beitragen. Außer der Uni Eichstätt sind auch die Universität Tübingen und die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel daran beteiligt. Online sind die Ergebnisse unter hier abrufbar. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Material über Tauler und Meister Eckhart findet sich außerdem in der Datenbank des Projektes "Predigt im Kontext".