Handeln nach dem Kontrollverlust
Ihre diesjährige Herbstvollversammlung, die an diesem Montag in Fulda beginnt, hatten sich die deutschen Bischöfe wohl anders vorgestellt. Am Dienstag wollten sie die Ergebnisse einer Studie über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland der Öffentlichkeit vorstellen. Das werden sie auch tun. Doch zentrale Ergebnisse der Untersuchung sind durch Berichte in der Wochenzeitung "Die Zeit" und anderen Medien bereits bekanntgeworden.
Etliche Bischöfe hatten daraufhin bereits in den vergangenen zwei Wochen Bestürzung und Entsetzen über das erschreckende Ausmaß des Missbrauchs geäußert und Konsequenzen gefordert. Welche Konsequenzen das sein sollen und müssen, das dürfte die zentrale Frage dieser Vollversammlung werden. Nach ihrem Kontrollverlust infolge der Indiskretion muss den Bischöfen daran gelegen sein, wieder als Handelnde und nicht als Getriebene wahrgenommen zu werden.
Welche kirchenspezifischen Faktoren haben Missbrauch begünstigt?
Die Quintessenz der Studie, die den Zeitraum von 1946 bis 2014 untersucht, lautet kurz zusammengefasst: Missbrauch und Vertuschung sind seit den verschärften Vorschriften der deutschen Bischöfe von 2010 zwar zurückgegangen, die Anstrengungen sind aber noch nicht ausreichend.
Hier birgt die Studie einigen Sprengstoff, der unter den Bischöfen in Fulda für Diskussionen sorgen könnte. Denn es geht in der 350 Seiten umfassenden Untersuchung offenbar nicht zuerst um praktische Fragen, die sich unmittelbar auf die Tat beziehen, etwa wie die kirchliche Strafverfolgung oder die Kooperation mit staatlichen Stellen verbessert werden kann, oder wie Präventionskonzepte zu optimieren sind. Die Wissenschaftler konzentrieren sich nach bisherigem Kenntnisstand vielmehr auf die Frage, welche kirchenspezifischen Faktoren haben Missbrauch und dessen Vertuschung begünstigt. Und hier gehen sie ans Eingemachte.
Als eine der Hauptursachen machen die Autoren der Studie Klerikalismus aus. Unter Klerikalismus verstehen sie ein "hierarchisch-autoritäres System", das bei Priestern "zu einer Haltung führen kann, nicht geweihte Personen (…) zu dominieren, weil er qua Amt und Weihe eine übergeordnete Position inne hat". Klerikalismus begünstigt laut der Studie den Täterschutz.
Die Autoren schlagen deshalb eine "Änderung klerikaler Machtstrukturen" und eine "grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Weiheamt des Priesters und dessen Rollenverständnis gegenüber nicht geweihten Personen". Die Sanktionierung einzelner Beschuldigter, öffentliches Bedauern, finanzielle Leistungen an Betroffene und die Etablierung von Präventionskonzepten und einer Kultur des achtsamen Miteinanders seien dabei "notwendige, aber keineswegs hinreichende Maßnahmen". Nach Ansicht der Autoren muss das Selbstverständnis von Priestern und das strukturelle Verhältnis von Priester und Laien in der Kirche auf den Prüfstand gestellt werden. Hier werden sich die Bischöfe der Frage stellen müssen, wie das Verhältnis von Priestern und Laien künftig so gestaltet werden kann, dass Missbrauch auf ein Minimum reduziert werden kann. Klar scheint, dass eine stärkere Mitsprache von Laien in der Kirche dafür unabdingbar ist. Bis zu welchem Grad eine solche Mitsprache gehen kann, ohne die traditionelle theologische Rollenbeschreibung in der Kirche aufzugeben, dürfte ein kontroverser Punkt sein.
Begünstigen Zölibat oder Homosexualität Missbrauch?
Bereits der Bericht über sexuellen Missbrauch in Pennsylvania, aus dem hervorging, dass die große Mehrheit der Missbrauchsopfer männliche Jugendliche waren, hat zu einer Debatte über einen möglichen Zusammenhang zwischen Homosexualität und Missbrauch geführt. Ultrakonservative homophobe Kreise werteten diesen Befund als Beleg dafür, dass die Kirche Homosexuelle strikter vom Priesteramt ausschließen und ihre Verurteilung von Homosexualität klarer artikulieren müsse. Auch die deutsche Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Mehrzahl der Missbrauchsopfer männlich ist. Auch die Frage, ob der Zölibat Missbrauch begünstigt steht, spielte zuletzt in der Debatte über spezifische Ursachen von sexuellem Missbrauch in der Kirche immer wieder eine Rolle. Einen direkten Zusammenhang zwischen Homosexualität und Zölibat mit Missbrauch verneinen die Autoren der Missbrauchsstudie jedoch. Sie schreiben, dass "weder Homosexualität noch Zölibat eo ipso Ursachen für sexuellen Missbrauch von Minderjährigen" seien. Allerdings "könnten spezifische Strukturen und Regeln der katholischen Kirche ein hohes Anziehungspotenzial für Personen mit einer unreifen homosexuellen Neigung haben".
Außerdem legten einige Befunde nahe, "sich mit der Frage zu befassen, in welcher Weise der Zölibat für bestimmte Personengruppen in spezifischen Konstellationen ein möglicher Risikofaktor für sexuelle Missbrauchshandlungen sein kann". Vor diesem Hintergrund werden sich die Bischöfe die Frage stellen müssen, wie in der Priesterausbildung und bei der Zulassung von Kandidaten fürs Priesteramt der Umgang mit Sexualität thematisiert wird und wie man verhindern kann, das unreife Persönlichkeiten zu Priestern geweiht werden.
Eine weitere Frage, die sich angesichts der Kritik an der Missbrauchsstudie stellt, ist, ob diese Untersuchung ausreicht. Etliche Kommentatoren hatten bemängelt, dass es sich nicht um eine unabhängige Studie gehandelt habe, weil die Akten von kirchlichen Mitarbeitern ausgewertet worden seien, zwar nach einem von den Wissenschaftlern erstellen Fragenkatalog, aber eben nicht von unabhängiger Seite. Als Vorbild wurde auf den Missbrauchs-Bericht im US-Bundesstaat Pennsylvania verwiesen.
Als weitere Schwäche wurde der Umstand genannt, dass die Studie offenbar keine Namen nennt. Weder Bistümer noch Personen werden in den Voarbberichten namentlich genannt und man darf annehmen, dass, wenn die Studie Namen genannt hätte, sie auch in der Presse gestanden hätten. Kölns Kardinal Rainer Maria Woelki teilt diese Einschätzung offenbar und kündigte für sein Bistum bereits eine unabhängige Studie an, wie es sie etwa bereits für das Bistum Hildesheim gibt. In Fulda wird sich zeigen, ob es eine solche neue unabhängige Studie möglicherweise für alle Bistümer geben wird.
Das alles können die Bischöfe nicht von heute auf morgen ändern, selbst wenn sie alle an einem Strang ziehen würden. Die Eindämmung des Klerikalismus und grundlegende Reformen in der Priesterausbildung brauchen Zeit, bis sie wirken. Und eine neue Studie dürfte mindestens weitere vier Jahre dauern. Die Bischöfe stehen jedoch so unter Druck, dass sie auch eine unmittelbare Reaktion brauchen. Der langjährige Leiter des Recollectio-Hauses, Wunibald Müller, hatte die Bischöfe aufgerufen angesichts der beschämenden Ergebnisse der Studie eine Vergebungsbitte zu sprechen. Im Jahr 2010 hatten die deutschen Bischöfe einen solchen Schritt schon einmal unternommen. Die Frage ist, ob man sich erneut dazu entschließen kann oder ob es andere Wege der Anerkenntnis von Schuld gibt.