Kolumne: Unterwegs zur Seele

Der lange Weg zum Vergeben

Veröffentlicht am 18.10.2018 um 14:21 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ "Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben", heißt es beim Evangelisten Matthäus. Doch Verzeihen und Vergeben fällt oft schwer. Es ist eine Kunst, die erst erlernt werden will. In der neuen Monats-Kolumne von katholisch.de gibt Brigitte Haertel Tipps zum Umgang mit Schuld.

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Psychologen unterscheiden zwei Arten von Vergebung: Die eine beruht auf einer bewussten Entscheidung, und der Wandel vollzieht sich äußerlich. Ein Mensch verhält sich anders gegenüber demjenigen, der ihm Unrecht getan hat, obgleich er vielleicht immer noch negative Gefühle hat.

Bei der emotionalen Vergebung findet der Wandel auch im Innern statt. Verbitterung, vielleicht sogar Hass machen Platz für positive Gefühle wie Empathie oder Verständnis. In dem Wort Vergeben steckt "Gabe". Das Opfer entscheidet, dem Täter diese Gabe zu überreichen. Nur diese gefühlte und geschenkte ist die echte Vergebung, bei der ersten Variante, der bewussten Entscheidung, geht es eher ums Verzeihen: "Verzeihung" sagt man ja auch, wenn man jemandem auf die Füße tritt. Verzeihen heißt dem Wort nach: Verzicht auf Vergeltung. Wer verzeiht, sinnt nicht auf Rache, lässt es gut sein, lässt los.

Die zeitgenössische Philosophin Svenja Flaßpöhler hat ein erhellendes Buch geschrieben: In "Verzeihen, vom Umgang mit Schuld" stellt sie als Betroffene die Frage: Wie ist ein solches Loslassen möglich, dass weder gerecht noch logisch ist. Muss, wer verzeiht, verstehen, lieben und vergessen können? Führt das Verzeihen zu Heilung oder ereignet es sich jenseits allen Zwecks?

Wem das Ungeheuerliche geschieht wie Missbrauch oder Vergewaltigung, der kann womöglich nach einer psychiatrischen Aufarbeitung wieder lieben, kann verzeihen oder vergeben, vergessen wird er nie!

Heilung kann der Mensch nur in der emotionalen Vergebung erfahren. In diesem Akt wird es möglich, sich aus den Fesseln des Täters zu befreien und davon ungehindert zu leben.

„Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“

—  Zitat: Mt 6,14f

Aber wie lässt sich zweifelsfrei erkennen, ob eine schuldhafte Handlung aus Freiheit oder innerem Zwang geschieht? Das sei wichtig für den Akt der Vergebung, sagt Svenja Flaßpöhler. Im Falle des missbrauchten Daniel Pittet betont sein Peiniger, Pater Joel Allaz in einem Interview, dass Pädophilie nicht heilbar sei. "Ich war machtlos gegen den Trieb, süchtig wie ein Alkoholiker."

Damit stellt sich die Frage nach Gut und Böse noch einmal anders. Ist ein Mensch einmal so programmiert, ohne dass er "böse" sein will, wird es dann leichter, ihm zu vergeben?

Svenja Flaßpöhler ergründet in ihrem Buch, unter welchen Bedingungen ein Schuldenschnitt im moralischen Sinne gelingen kann. Sie besuchte die Mutter eines siebzehnjährigen Mädchens, das am 11. März 2009 beim Amoklauf an der Albertville-Realschule in Winnenden neben 14 anderen Schülern erschossen worden war. "Er wusste nicht, was er tat", sagt die Mutter, eine Lehrerin, heute. Es war ein langer Weg hin bis zu dem Augenblick, als sie diesen Satz sagen konnte. "Ganz am Anfang konnte ich den Namen des Täters nicht aussprechen. Um den Schmerz abzuwehren, musste ich auf Distanz gehen, konnte den Täter nicht als Person, seine Tat nicht als menschliche Handlung erkennen. Was geschehen war, war für mich eine Art Naturereignis, gegen das ich völlig machtlos war. Diese Schockstarre wurde später abgelöst durch blanke Wut. Diese Phase erzeugt keineswegs den Wunsch zu verzeihen." Erst durch die Beschäftigung mit den Zusammenhängen änderte sich etwas für die Mutter. "Ich wollte wissen: Wie kommt es, dass ein Mensch sich so entwickelt, sich so entscheidet? Erst dann konnte ich einen Schritt des Verzeihens tun, ein Weg, den ich seit Jahren beschreite."

Nur eine Erkenntnis lässt sich aus diesen Sätzen ableiten: Verzeihen, Vergeben ist eine Kunst, die erlernt werden will, und die, wie jede Kunst, Übung und Geduld erfordert.

Von Brigitte Haertel

Die Autorin

Brigitte Haertel ist Redaktionsleiterin von "theo – Das Katholische Magazin".

Hinweis: Der Artikel erschien zuerst im "theo"-Magazin.