Lectio divina: Das eigene Leben im Licht der Heiligen Schrift betrachten
"Ebenso ermahnt die Heilige Synode alle an Christus Glaubenden, zumal die Glieder religiöser Gemeinschaften, besonders eindringlich, durch häufige Lesung der Heiligen Schrift sich die ‚alles übertreffende Erkenntnis Jesu Christi‘ (Phil 3,8) anzueignen." So schreiben die Väter des Zweiten Vaticanums im vorletzten Artikel der Konstitution über die göttliche Offenbarung Dei verbum (Nr. 25). Nachdrücklich weist das Konzil auf die Lesung der Heiligen Schrift hin und sieht gerade in ihrer Lektüre einen herausragenden Zugang zu Christus. Denn, so zitiert der Konzilstext weiter den heiligen Hieronymus: "Die Schrift nicht kennen heißt Christus nicht kennen."
„Die Schrift nicht kennen heißt Christus nicht kennen.“
Das Lesen der Schrift ist zunächst für den christlichen Gottesdienst von besonderer Bedeutung. In jeder Eucharistiefeier sind die Gläubigen eingeladen, Lesungen aus dem Alten und Neuen Testament zu hören. Wiederum war es das Zweite Vatikanische Konzil, das den hohen Stellenwert der Wortverkündigung hervorgehoben hat, sodass fortan vom Ambo als dem "Altar des Wortes" die Rede war. All das zeigt: Das Hören auf die Worte der Schrift ist wesentlicher Bestandteil für das christliche Leben. Ein solches funktioniert nicht, ohne immer wieder neu die Schrift zu lesen, sie zu studieren, sich immer enger mit ihr zu verbinden. Schon der Psalmbeter weiß um den herausragenden Wert des Gotteswortes, wenn er spricht: "Wie süß ist dein Spruch meinem Gaumen, meinem Mund ist er süßer als Honig" (119,103).
Die Schrift soll das ganze Leben durchziehen
Dabei reicht es nicht aus, die Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes auf die Eucharistiefeier zu begrenzen. Die "häufige Lesung der Heiligen Schrift" muss das ganze Leben durchziehen und muss besonders auch den Alltag prägen. Das jedenfalls haben schon die frühchristlichen Mönche, die sich in Einsamkeit und Askese in die Wüste zurückgezogen haben, erkannt. Sie haben ein besonderes Schriftgebet eingeübt, die sogenannte "lectio divina", die "Heilige Lesung". Das ist eine ganz persönliche, ganz eigene Beschäftigung mit der Heiligen Schrift, welche schon die Wüstenväter als Leiter zu Gott angesehen haben.
Dabei stehen zunächst zwei relative einfache Dinge im Vordergrund: Das erste ist die persönliche Auseinandersetzung mit dem Gotteswort, die aus der eigenen Lektüre der Schrift entspringt. Es geht um ein eigenes Lesen der Schrift, um eine eigenständige Meditation der Worte. Und das zweite ist ein Verweben des eigenen Lebens mit dem Wort Gottes. Durch die immer wiederkehrende tägliche Lektüre soll der eigene Alltag immer mehr durchdrungen werden von den Worten der Schrift. Das führt zu einer Verinnerlichung dessen, was man liest, zu einem Aufnehmen der Worte ins Herz. Das fortwährende Lesen der Schrift ist nicht nur eine einfache Lektüre, sondern ein Öffnen auf das große Geheimnis Gottes hin und beständige Vertiefung der eigenen Gottesbeziehung.
Täglich zehn Verse und vier Schritte genügen
Eine präzise Anleitung für die lectio divina bietet die Schrift "Scala claustralium", die der Kartäusermönch Guigo II. um das Jahr 1150 verfasst hat. Darin erläutert er einen Weg für die "Heilige Lesung", der auf vier Schritten basiert: Zunächst nennt der Mönch die lectio, die aufmerksame Lesung des Bibeltextes. Dabei soll man sich nicht zu viel vornehmen, täglich ungefähr 10 Verse, die man mindestens zweimal liest. Als Zweites folgt die meditatio des Gelesenen, wobei man sich einen Vers auswählt, der einen besonders angesprochen oder getroffen hat. Diesen Vers wiederholt man immer wieder, meditiert ihn, spricht die einzelnen Worte ganz vorsichtig aus. Anschließend folgt die oratio, das Gebet, die menschliche Antwort auf das gehörte und gelesene Wort Gottes. Man kann sich überlegen, was die Verse der Lesung für das eigene Leben bedeuten und Gott dafür danken, ihn preisen oder um etwas bitten. Abschließend nennt Guigo die contemplatio, das Verweilen vor Gott.
Das Hören auf sein Wort und die betende Antwort des Menschen führen in die Gemeinschaft mit Gott. Hier darf man einfach vor ihm sein, ihn mit Liedern lobpreisen oder ihm ganz einfach das ganze Leben hinhalten. Alle Gedanken, die man sich über das gelesene oder gehörte Gotteswort gemacht hat, darf man mit hineinnehmen in den Lobpreis, darf man Gott übergeben im Vertrauen darauf, dass er es annimmt. So ist die ganze lectio divina nicht nur Schriftlesung, sondern auch Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und ein Hingeben des eigenen Erlebten an Gott.
Was löst die Schrift mit meinem Leben aus?
Es ist wohltuend, dass die fortwährende Schriftlesung heutzutage in manchen Gemeinden schon regelmäßig eingeübt wird. Es ist eine schöne Möglichkeit, sich über den Glauben auszutauschen und gemeinsam die verborgenen Schätze der Heiligen Schrift zu entdecken. Kein großer Aufwand ist dazu notwendig: Beispielsweise in den geprägten Zeiten des Kirchenjahres kann man sich in kleiner Runde treffen, und die Lesung des folgenden Sonntags miteinander betrachten. Oder man wählt sich ein bestimmtes biblisches Buch aus, dem über ein ganzes Jahr lang die Aufmerksamkeit gewidmet wird. Mit den vier Schritten, lectio, meditatio, oratio und contemplatio hat man den Ablauf der Leserunden bereits vorgegeben. Wenn man die Schriftlesung in Gemeinschaft praktiziert, ist es vielleicht ganz hilfreich, die Texte laut vorzulesen und sich im Rahmen der meditatio auch über das Gehörte auszutauschen.
Es muss keine wissenschaftliche Bibelauslegung sein, vielmehr sollte immer die Frage im Vordergrund stehen: Was löst die Konfrontation des Textes mit meinem Leben aus? Von welchem Wort fühle ich mich ganz persönlich getroffen? Allerdings kann es durchaus hilfreich sein, wenn man am Anfang der Lesung den Teilnehmenden einige grundlegende Informationen zum Text vermittelt: In welchem Kontext findet sich der Abschnitt in der Heiligen Schrift? Welche theologische Besonderheit prägt das Buch, in dem die Lesung steht? Wie ist das Buch im gesamten Kanon der Bibel verortet? All dies sind sicherlich Leitgedanken, die helfen, den Text nachzuvollziehen und die Intention des Textes besser zu verstehen.
In die Bibel versenken
Die fortwährende Bibellesung ist auch eine Möglichkeit, sich persönlich immer tiefer mit dem Text der Heiligen Schrift zu verbinden. Es reicht schon aus, am Morgen oder am Abend eine kurze Bibelstelle herauszugreifen und diese zu betrachten. Man kann sich zum Beispiel an der liturgischen Leseordnung orientieren und im Lesejahr C (ab dem 1. Advent 2018) das Lukasevangelium lesen. Oder man sucht sich ein bestimmtes biblisches Buch aus und liest dieses einmal in kleine Abschnitte zerteilt von vorne bis hinten durch. All das muss nicht an einem Tag geschehen, sondern kann mehrere Wochen und Monate in Anspruch nehmen. Im Sinne der betrachtenden lectio divinia ist es eher, bei kurzen und prägnanten Abschnitte lange zu verweilen und nicht die langen Schrifttexte in der Kürze zu lesen. Diese Weise der Lektüre hilft nicht nur, das eigene Leben im Licht der Heiligen Schrift auszudeuten. Es ermöglicht auch mit sehr wenigen Hilfsmitteln eine bessere Kenntnis der Bibel und der biblischen Geschichten.
Die lectio divina ist eine schöne und einfache Möglichkeit, das Gotteswort in den persönlichen Alltag zu integrieren. Es braucht nicht viel, um im eigenen Leben immer neu auf sein Wort zu hören und es zu bedenken. Vielleicht ist es gerade in diesen so bewegten Jahren wichtig, sich immer neu auf den Grund des Glaubens zu besinnen und die Aufmerksamkeit für Gottes Stimme zu schärfen. Immer neu sagt er uns sein Wort des Lebens zu. Und wir dürfen es hören, verinnerlichen und uns immer mehr mit ihm verbinden. Die Lesung der Schrift ist keine Marginalie. Sie ist der Weg zu Gott und die Möglichkeit, Christus immer mehr kennenzulernen.