Kolumne: Unterwegs zur Seele

Vom Sein

Veröffentlicht am 14.11.2018 um 15:10 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Heute bedeutet Konsum für viele Menschen ein bedeutendes Stück Lebensqualität. Doch Gier und die Stärkung des eigenen Egos führen nicht zum Sein, glaubt Brigitte Haertel. In der Monats-Kolumne "Unterwegs zur Seele" von katholisch.de denkt sie über den Unterschied von Leben und Sein nach.

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Was Leben ist – das kann die Wissenschaft bis heute nicht exakt definieren. Sie eiert herum mit dünnen, biologischen Fakten. Dessen ungeachtet hat der Mensch den Begriff "Leben" seinen Bedürfnissen entsprechend ausgebaut und ihn gründlich entmystifiziert: Lebensversicherungen und Lebensqualität, Lebenspartner und Lebenskonzepte, Lebensentwurf und Lebenslüge – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. In seinem 1976 erschienenen Buch "Haben oder Sein" widmet sich der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Erich Fromm (1900-1980) nicht zufällig dem Begriff des Seins als Gegenentwurf zum "Leben".

"Das Sein ist das Wirkliche im Gegensatz zum verfälschten, illusionären Bild des menschlichen Lebens, das das Wissen von der Wahrheit verdrängt, von dem, was wirklich ist! In diesem Sinne bedeutet jeder Versuch, das Sein auszuweiten, eine höhere Einsicht in die Realität des Selbst und der anderen."

Wesentliche Ziele der christlichen und auch der jüdischen Religion, vor allem aber des Buddhismus – die Überwindung der Gier und des Egos – kann der Mensch nicht erreichen, ohne zum Sein zu gelangen: Und dorthin gelangt er, wenn er die Oberfläche durchdringt und die Wirklichkeit erfaßt.

Das Lebensmotto und die Lebensversicherung stehen auf der Haben-Seite. Aber das Sein? Die Lebensbedingungen sind vielfältig, das Sein ist es nicht. Wer bin ich, wenn ich nur das bin, was ich lebe und dann verliere was ich lebe? Nichts, als ein besiegter, ein gebrochener Mensch. Das Sein aber ist das tiefe Selbst, meine wahre Natur. Das Sein erfahre ich nur, wenn der Verstand still ist und ich ganz gegenwärtig bin.

Im Alten Testament heißt es: Verlasse, was du hast, befreie dich von allen Fesseln, sei! Lebensgier und Habenwollen geißelt auch das Neue Testament, in dem Jesus die Aufgabe der Selbstsucht und die Verantwortung für die Mitmenschen fordert:

„Sammelt nicht eure Schätze auf der Erde, wo Motten und Würmer sie zerstören und wo Diebe einbrechen und sie stehlen, sondern sammelt eure Schätze im Himmel, wo keine Motten und Würmer sie zerstören und keine Diebe einbrechen und sie stehlen. Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.“

—  Zitat: Mt 6,19f; vgl. Lk 12,33f

Leben heißt heute konsumieren. Wir, in der westlichen Welt, kennen die Segnungen der Warenwelt, sie sagen uns kaum noch etwas. Im Gegenteil: Viele Menschen sind heute bemüht, sich vom Überfluss zu befreien. Viel zu haben, zu besitzen führt zu großen Egos, aber nicht unbedingt zum Wohl-Sein.

Die vielen Wirtschaftsflüchtlinge belegen es: Die Hoffnung auf "Glück durch Haben" ist nirgendwo lebendiger als in jenen Ländern, die vom überbordenden Wohlstand noch nicht profitieren und noch nicht wissen können, was er mit ihnen macht.

Lebenshunger, Habsucht und Neid seien Teil der menschlichen Natur, so geht der Einwand – doch ist er wirklich haltbar? Diese Untugenden sind nicht von Natur aus gegeben, sondern Folge des allgemeinen Drucks, ein Wolf unter Wölfen zu sein (Erich Fromm). Und gegen das ganze Wolfsrudel arbeitet die Zeit, die Lebenszeit. Das Leben mit seinen Versicherungen und Konzepten gibt es nur innerhalb der Zeit, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Das Sein steht nicht notwenderweise außerhalb der Zeit, aber Zeit ist nicht die Dimension, die das Sein beherrscht. Das Erleben von Liebe, Freude (nicht Vergnügen), das Erfassen einer Wahrheit geschieht nicht in der Zeit, sondern im Augenblick, im Jetzt. Es ist die Ewigkeit, die Zeitlosigkeit; nur in der Abwesenheit von Zeit kommt unsere Selbstwahrnehmung aus dem Sein und nicht aus der persönlichen Vergangenheit. Nur dann verschwindet das Bedürfnis, etwas anderes zu leben, als wir es "zur Zeit" leben oder gelebt haben. Und damit auch die illusorische Erwartung, dass irgendetwas oder irgendjemand in Zukunft kommt und uns glücklich macht.

Von Brigitte Haertel

Die Autorin

Brigitte Haertel ist Redaktionsleiterin von "theo – Das Katholische Magazin".

Hinweis: Der Artikel erschien zuerst im "theo"-Magazin.