Freiburgs Erzbischof Burger zum "Welttag der Armen"

"Armut ist kein abstraktes Problem – wir müssen die Menschen sehen"

Veröffentlicht am 17.11.2018 um 15:15 Uhr – Lesedauer: 

Freiburg ‐ Die deutschen Bischöfe rufen zum "Welttag der Armen" an diesem Sonntag zu konkreten Begegnungen mit Menschen am Rand auf. Im Interview erläutert der Freiburger Erzbischof Stephan Burger die Hintergründe.

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An diesem begeht die katholische Kirche zum zweiten Mal den "Welttag der Armen". Die deutschen Bischöfe rufen aus diesem Anlass zu konkreten Begegnungen mit Menschen am Rand auf. Im Interview erläutert der Freiburger Erzbischof Stephan Burger die Hintergründe. Er leitet in der Bischofskonferenz sowohl die Kommission für caritative Fragen und Caritas als auch die Unterkommission für Entwicklungsfragen und Misereor.

Frage: Erzbischof Burger, was soll der vom Papst ausgerufene "Welttag der Armen" bewirken?

Burger: Ihm geht es – ganz nach dem Vorbild Franz von Assisis – um die Hinwendung zu den Menschen, die am Rand leben. Es kann weder Gerechtigkeit noch Frieden auf der Welt geben, wenn so viele Menschen Hunger leiden und in Armut leben. Darauf will Papst Franziskus unseren Blick lenken.

Frage: Wie wichtig und dringend ist der Kampf gegen Armut für die katholische Kirche?

Burger: Er ist sehr wichtig, ist er doch eine zentrale Botschaft des Evangeliums. Jesus selbst hat sich den Armen, den Bettlern und Ausgegrenzten zugewandt. Wenn wir in der Nachfolge Christi Kirche sein wollen, ist das unser Auftrag. Armut hat dabei mehr Facetten als die wirtschaftliche: Menschen können arm an Chancen, Zugängen, Zuwendung, Entwicklung und vielem mehr sein. All diesen Menschen wollen und sollen wir uns zuwenden.

Frage: Die deutschen Bischöfe empfehlen "Begegnungen mit Armen und Bedürftigen im Umfeld des Welttags". Wie soll das konkret aussehen?

Burger: Da hat jeder unterschiedliche Möglichkeiten und Herangehensweisen. Das kann ganz konkret die Mithilfe in einer Suppenküche, einer Bahnhofsmission oder Notunterkunft sein. Oder der Besuch von Menschen in der Nachbarschaft und Umgebung, die weniger haben als wir, die allein sind oder Hilfe in ihrem Alltag benötigen.

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Ein zunehmender Teil der Bevölkerung gerate auch hierzulande ins Abseits, mahnen die deutschen Bischöfe. Zum "Welttag der Armen" am Sonntag rufen sie deshalb zu besonderen Formen der Solidarität auf.

Frage: Sie sind als Bischof für die Caritas zuständig und für Misereor. Welche Begegnungen mit Armut haben Sie in letzter Zeit besonders beeindruckt?

Burger: Ich denke da an Begegnungen mit Slum-Bewohnern von Nairobi, deren Existenz auf dem Spiel steht. Eine in Bau befindliche Autobahn wird viele um ihre Behausungen bringen. Eine kleine Schule wird verschwinden, die einzige Hoffnung für Kinder und Jugendliche auf eine Ausbildung und damit auf Zukunft. Kleine Händler und Bauern werden ohne Alternative dastehen, ihre Erzeugnisse verkaufen zu können. Menschen, die schon arm genug sind, wird auch noch das Wenige, das sie zum Leben haben, genommen.

Frage: Wie unterscheidet sich die Armut, die Sie bei diesen beiden Aufgaben erleben – im größten Sozialverband Deutschlands und im weltgrößten katholischen Entwicklungshilfswerk?

Burger: Auch wenn ich die Armut in Deutschland in keiner Weise herunterspielen möchte, so ist in Afrika Armut in einem anderen Ausmaß zu sehen. In Nairobi etwa lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Slums, mit kaum genug zum Leben und immer in der Gefahr, für ein Infrastrukturprojekt umgesiedelt zu werden. In Äthiopien muss jeder Quadratmeter Ackerfläche mühsam der erodierten Natur abgerungen werden. Trotz vieler Verbesserungen in den letzten Jahren sind noch immer über 20 Prozent der Bevölkerung unterernährt.

Frage: Und in Deutschland?

Burger: Hier wird Armen oft unterstellt, sie wären alleine an ihrer Notlage Schuld. Es ist aber immer möglich, keine Fehler zu machen und dennoch zu verlieren. Zudem neigen wir dazu, uns aus der persönlichen Verantwortung für andere nehmen zu wollen, indem wir darauf vertrauen, dass der Staat oder ein Wohlfahrtsverband wie die Caritas sich schon der Armen annehmen werden. Dies gilt freilich nicht für alle, und es gibt ausreichend Gegenbeispiele dafür, aber immer noch Verbesserungsmöglichkeiten. So unterschiedlich Armut ist, hat sie doch überall gemein, dass mit ihr ein Verlust an Teilhabe- und Teilnahmemöglichkeiten einhergeht. Diese Ausgrenzung bedeutet für Arme noch eine zusätzliche Belastung in ihrer ohnehin schon schwierigen Situation.

Bild: ©Sir_Oliver/Fotolia.com

"So unterschiedlich Armut ist, hat sie doch überall gemein, dass mit ihr ein Verlust an Teilhabe- und Teilnahmemöglichkeiten einhergeht", so Erzbischof Burger.

Frage: Was muss weltweit getan werden, um diese Armut wirksam zu bekämpfen?

Burger: Da gibt es keine einfache Antwort, aber schon ein paar Möglichkeiten: Etwa unser aller Einsatz – ob politisch, kirchlich, diplomatisch oder gesellschaftlich, dass Kriege beendet und verhindert werden. Denn die gehören zu den Hauptursachen für Armut und Not. Hier sind alle Staaten aufgerufen, friedliche Lösungen für alle Beteiligte zu finden und nicht nach eigenen nationalen Interessen zu agieren. Außerdem ist unser aller Umgang mit Schöpfung, Natur und Klima für Armut mitverantwortlich. Das ist eine Form der Armutsbekämpfung, an der jeder mitwirken kann, die man nicht sofort sieht. Solange wir die Ausbeutung der Erde in anderen Teilen der Welt zu Hungerlöhnen akzeptieren, um selbst Fleisch und Obst besonders billig kaufen zu können, wird weiterhin Ungleichheit produziert, die Natur und damit Lebensraum zerstört und Armut von Menschen manifestiert.

Frage: Und was muss bei uns in Deutschland passieren?

Burger: Hier gibt es spezielle Armutsrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter. Da Wohnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit und Armut sehr eng zusammenhängen, müssen Politik und Gesellschaft genau hier ansetzen. Deutschland ist ein Sozialstaat, und doch ist die Armut Alltag für viele unter uns. Es braucht mehr sozialen Wohnungsbau, es braucht Konzepte für die Zukunft des Rentensystems, damit nicht bald ganze Generationen von Armut bedroht sind. Zudem braucht es bessere Angebote, um arbeitslose Menschen wieder in die Arbeitswelt zu integrieren. Das sind große und drängende politische Herausforderungen. Als Kirche sind wir seit langem etwa mit der Caritas an diesen Themen dran. Die Kampagne "Jeder Mensch braucht ein Zuhause" will genau auf diese Armutsrisiken aufmerksam machen. Und viele Hauptamtliche und Ehrenamtliche engagieren sich seit vielen Jahren in diversen Einrichtungen, um Menschen in Not zu helfen - ob durch materielle, medizinische oder andere Hilfen.

Frage: Was kann so ein Welttag tatsächlich bringen außer ein paar schönen Worten?

Burger: Das liegt letztlich an uns. An dem, was wir daraus machen. Es bleiben tatsächlich nur ein paar schöne Worte, wenn wir nicht aktiv werden. Daher ist jeder Einzelne von uns aufgefordert, diesen Tag nach seinen Möglichkeiten zu nutzen, um Armut zu bekämpfen.

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Frage: Was kann jeder Einzelne von uns gegen Armut tun?

Burger: Von der Essenseinladung über die Kleiderspende bis zum ehrenamtlichen Einsatz - jeder kann etwas tun. Und mit diesem Einsatz hat jeder Mensch zugleich Vorbildfunktion für andere, das dürfen wir nicht vergessen. Wenn einer anfängt, kann er andere anstecken, ermuntern, zur Nachfolge motivieren.

Frage: Und was wünschen Sie sich von der Politik?

Burger: Ich wünsche mir, dass zuerst die konkreten Menschen gesehen werden und nicht Armut abstrakt als zu behebendes Problem. Ich wünsche mir, dass der Mensch wieder mehr in den Fokus gerät und nicht Statistiken, Zahlen, Ober- und Untergrenzen die Debatten über Armut beherrschen.

Frage: Wann ist der "Welttag der Armen" ein Erfolg?

Burger: Wenn mehr Menschen merken, dass jeder irgendwann von Armut bedroht sein könnte und Armut nicht selbstverschuldet ist. Wenn mehr Menschen merken, dass Wohlstand nicht automatisch Leistung bedeutet und Armut im Umkehrschluss automatisch fehlende Leistung. Armut ist etwas, das uns allen widerfahren, das uns alle treffen kann. Armut ist ein Aufruf an unsere Nächstenliebe, an unser Mensch-Sein. Wenn dies wirklich in das Bewusstsein tritt, kann man nicht mehr wegschauen, wenn man Menschen in Not begegnet, sondern man reagiert solidarisch und helfend.

Von Gottfried Bohl (KNA)