Marie-Jo Thiel fordert "heilsame Dezentralisierung"

Theologin: Missbrauch hat Sexualethik der Kirche zerstört

Veröffentlicht am 14.12.2018 um 09:35 Uhr – Lesedauer: 

Freiburg ‐ Die bisherige kirchliche Sexualmoral ist laut Theologin Marie-Jo Thiel gescheitert. Anstatt "universalistische Unnachgiebigkeit" müsse daher nun das Gewissen im Vordergrund stehen, sagt sie – und beruft sich auch auf den Papst.

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Die Präsidentin der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie, Marie-Jo Thiel, hat zu einem umfassenden Umdenken in der Sexual- und Familienethik ihrer Kirche aufgerufen. Papst Franziskus habe durch sein Lehrschreiben "Amoris laetitia" Anstöße gegeben und Freiräume geschaffen, sagte Thiel am Donnerstag in der Katholischen Akademie Freiburg. Diese gelte es nun schnell zu nutzen. Dabei gebe es erhebliche Spielräume für regionales Handeln, ohne immer gleich eine universalkirchliche Lösung anzustreben. Es gehe um eine "heilsame Dezentralisierung", wie es Franziskus genannt habe.

Anstatt auf "universalistische Unnachgiebigkeit" zu pochen, müssten beispielsweise die Selbstbestimmung und das Gewissen des Einzelnen viel stärker berücksichtigt werden, sagte die Straßburger Theologin. Es sei höchste Zeit, die von der Kirche beanspruchte "Herrschaft über Körper und Seelen" zu beenden. Leitlinie christlicher Ethik müsse das Prinzip der Barmherzigkeit sein. "Die Vergebung, die wir in der Liebe und im Glauben empfangen haben, befreit uns und führt uns so auf den Weg der Umkehr."

Missbrauch zeige Scheitern der bisherigen Sexualmoral

Das "Scheitern der bisherigen Sexualmoral" der Kirche zeige sich in den Verbrechen des sexuellen Missbrauchs durch Geistliche, so Thiel weiter. Denn die Taten von sexuellem Macht- und Gewissensmissbrauch seien gerade von denen begangen worden, die die Moral beispielhaft vorleben sollten. Die Missbrauchstäter zerstörten damit, so die Theologin, "das gesamte Lehrgebäude der Sexual- und Familienethik und untergraben damit sowohl die absolutistischen und autoritären Normen als auch die zentralisierten, undurchsichtigen Machtstrukturen und die damit verbundenen Möglichkeiten der Verdunklung".

Entschieden wandte sich Thiel gegen das kirchliche Nein zur Empfängnisverhütung. "Gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen geschlechtlicher Vereinigung und Zeugung in der Natur? Nein!" Sie sprach zudem von einer "schuldhaften Naivität" der Kirche, wenn Bischöfe argumentierten, der Gebrauch von Kondomen führe zu Sittenverfall und leiste der Ausbreitung von HIV/Aids Vorschub. Zudem wies sie Lehraussagen zurück, wonach homosexuelle Handlungen "pathologisch und immer sündhaft" seien. Innerkatholische Gegner von Franziskus behaupteten dies und bezögen sich dabei auch auf Benedikt XVI., kritisierte Thiel.

Thiel ist Professorin für Moraltheologie an der Universität Straßburg und forscht vor allem zu Fragen der Bioethik. Die promovierte Ärztin und Theologin wurde 2017 von Papst Franziskus als Mitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben berufen. (fxn/KNA)