Als meine Schülerin alles mit uns teilte, was sie hatte
HTML-Elemente (z.B. Videos) sind ausgeblendet. Zum Einblenden der Elemente aktivieren Sie hier die entsprechenden Cookies.
Eine Kolumne zum Religionsunterricht ist eine tolle Sache, gibt es doch eine ganze Menge zu berichten aus einem Arbeitsfeld, in dem ich mich als Theologe und Religionslehrer, aber auch als gläubiger Christ ganz nah am Puls der Zeit bewege und täglich erfahre, wie wertvoll es ist die Rede von Gott in den öffentlichen Raum der Schule zu tragen.
Ich unterrichte seit 18 Jahren im Dienst des Erzbistums Hamburg katholischen Religionsunterricht an mehr oder weniger (mehr: zwölf, weniger: drei Schulen pro Schuljahr!) verschiedenen Schulen in der Nähe von Hamburg in Schleswig-Holstein. Um es gleich direkt zu sagen: Ich gehe sehr gern zur Schule und kann bezeugen, dass man sich nicht von dem täglichen Wahnsinn unterkriegen lassen muss. Und selbst zwölf Schulen funktionieren – das ist aber eine Geschichte, die an anderer Stelle erzählt werden muss.
Die "Gesprächspartner" ernstnehmen
Mein Grund-Thema ist "Freiheit". Ich erzähle von einem Gott, einem Glauben, von Menschen in der Nachfolge Jesu, denen "Freiheit" ein sehr hohes Gut ist. Wie aber könnte ich dies glaubhaft tun, wenn ich nicht einen Raum der Freiheit in meinen Kursen zu schaffen versuchte! Und Freiheit lebt für mich davon, meine "Gesprächspartner" ernst zu nehmen.
Ich frage meine Schüler stets nach ihrer Meinung – auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Kontexten. Meiner Erfahrung nach wissen sie auch über Glaubensfragen und theologische Sachverhalte eine Menge. Und entgegen einem weit verbreiteten Lamento tragen die meisten von ihnen durchaus einen Glauben. Es lohnt sich genau hinzuhören. Keiner meiner Schüler weiß natürlich alles, manchmal weiß ein einzelner sogar herzlich wenig. Aber als Gruppe sind sie oft sehr stark! Wenn ich beispielsweise einen Kurs im zehnten Jahrgang nach dem Stichwort "Religion" frage und wir beginnen, die Ideen zu sammeln, steht regelmäßig das ganze theologische Programm an der Tafel. Es sind zwar nur Stichworte, Gedankenfragmente, die nicht durchdacht, nicht systematisch sind und in Begriffen daherkommen, die nicht die sind, die ich als Fachmann verwende.
Aber was Religion ist und wozu sie wichtig ist, wissen die Jugendlichen. Sie wissen, dass sie als Menschen Halt brauchen, dass sie Orientierung benötigen und Regeln für das Zusammenleben. Sie wissen, dass sie ihr Leben nicht selbst gemacht und nur sehr bedingt in Händen halten. Und manchmal erzählen sie auch von Erfahrungen der Gemeinschaft in kirchlichen Gruppen, in denen sie sich heimisch fühlen. Und vielen ist der Glaube an Gott eine völlige Selbstverständlichkeit. Solche Erfahrungen halte ich für entscheidend. An sie kann ich anknüpfen. Vieles, was ich vermitteln und – ja, auch! – beibringen möchte, trifft bei den Schülern auf Antennen, die meine Thematik von vornherein mit ihrer Lebenswelt verbindet. Ich will nichts Absurdes von ihnen, nichts, was völlig an ihnen vorbeigeht. Ich arbeite an der Erweiterung eines Horizontes, der schon da ist. Es geht darum zu fragen, was Religion und Glaube zu den Gedanken der Schüler beitragen kann.
Ich frage meine Schüler auch nach ihrer Meinung, weil ich regelmäßig erfahre, dass sie kompetent sind. Sie sind kompetent zumindest in den existentiellen Fragen, die sie alle umtreiben, in den Erfahrungen mit einer Welt, die sie vorfinden, in der sie sich aber oft nicht wohlfühlen, in der sie sich oft nicht zurechtfinden, in der sie sich aber bewegen und die sie gestalten. Sie sind kompetent in ihrer Suche nach Sinn, nach Orientierungsorten, nach Liebe und Gemocht werden. Und immer wieder erweisen sich die Jugendlichen auch kompetent in ihren Entwürfen und Ideen, wie das Leben zu bestehen sei. Manchmal geben sie im Handeln Zeugnis von solchen Ideen und ihrer Kompetenz. In einer Stunde, in der es an einer Grundschule um den heiligen Martin und das Teilen ging, stand eine Schülerin aus dem dritten Schuljahr auf und sagte, sie wolle wie Martin etwas mit uns teilen. Sie zog eine Clementine aus dem Ranzen und gab jedem von uns ein Stück.
Es stellte sich heraus, dass diese Clementine ihr Frühstück war. Sie hatte alles gegeben! Mir stockte der Atem und ich war gerührt, hatte dieses Mädchen doch die alte Geschichte mit Leben erfüllt und gezeigt, dass der Glaube ganz einfach, ganz praktisch lebendig werden kann. An diesem Tag machte der Unterricht besonders viel Vergnügen, denn er war ganz offenbar keine Einbahnstraße, sondern ich war von dieser Schülerin reich beschenkt worden. Insgeheim fragte ich mich, was ich ihr eigentlich noch "beibringen" könne. Denn sie hatte das Wesentliche ja offensichtlich verstanden. Solche Kompetenzen meiner Schüler versuche ich wahrzunehmen und zu achten. An ihnen versuche ich meinen Unterricht auszurichten.
Was ich von Ihnen gern hätte...
Das, was ich jetzt von Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, gern hätte, dass sie lesen und hören, mache ich mit meinen Schülern, ich höre ihnen zu, versuche herauszufinden, was sie bewegt, wie sie ticken. "Was willst du, dass ich dir tun soll", so fragte doch Jesus einmal einen gewissen blinden Bartimäus. – Die Art und Weise, wie ein bestimmter "Stoff" zu vermitteln ist, richtet sich dann, wenn alles gutgeht, an dem, was die Kinder mitbringen, aus. Sie haben einen Anspruch darauf mit Themen und mit Gedanken konfrontiert zu werden, die mit ihnen zu tun haben und die sie wenigstens halbwegs für relevant halten.
Wie das im Einzelnen funktioniert, und warum ich seit nun 18 Jahren ein glücklicher und überzeugter Religionslehrer bin, davon würde ich in der kommenden Zeit sehr gern Näheres erzählen. Also hoffentlich auf bald...
P.S.: Dass viele Stunden nicht so funktionieren, dass manches Chaotische geschieht und die Schüler gelegentlich alles andere als gesprächig sind, möchte ich ehrlicherweise nicht verschweigen. Aber die Idee von Freiheit ist für mich so bestechend, dass der Versuch sie in die Tat umzusetzen tagtäglich einen neuen Versuch wert ist.