"Ein Jahr des Aufbruchs"
Frage: Herr Erzbischof, was war 2012 für ein Jahr für die katholische Kirche in Deutschland?
Zollitsch: Ein Jahr des Aufbruchs! Das wurde etwa beim Katholikentag im Mai in Mannheim spürbar, der ein lebendiges Fest des Glaubens war. Zugleich sind wir beim Dialogprozess zur Zukunft der Kirche weiter vorangegangen. Es gab in Hannover ein zweites bundesweites Forum, bei dem sich Theologieprofessoren, Bischöfe, Vertreter kirchlicher Verbände und geistlicher Gemeinschaften und Gläubige aus den Bistümern auf Augenhöhe begegnet sind. Wir konnten spüren: Wir sind gemeinsam unterwegs und wollen uns von Gott leiten lassen. Das ist für mich Ermutigung, diesen Weg auch 2013 couragiert fortzusetzen.
Frage: Welche konkreten Fortschritte erwarten Sie, zum Beispiel mit Blick auf wiederverheiratete Geschiedene, die bislang häufig von wichtigen Teilen des kirchlichen Lebens ausgeschlossen sind?
Zollitsch: Wir stellen uns auch der Frage der Pastoral im Blick auf wiederverheiratet Geschiedene. Wir behandeln das Thema auf Ebene der Bischofskonferenz. Ich möchte, dass wir einen gemeinsamen Weg für ganz Deutschland finden. Auch ich als Vorsitzender der Bischofskonferenz werde nicht versuchen, durch Überlegungen in meinem Bistum andere festzulegen.
Frage: Die Zahl der Katholiken sinkt weiter, gleichzeitig entstehen vielerorts gemeindeübergreifende, neue Zentren religiösen Lebens. Steht die deutsche Kirche vor einem grundlegenden Wandel?
Zollitsch: Wir stehen zweifellos vor großen Herausforderungen. Früher waren die Priester allein für die Seelsorge verantwortlich. Heute engagieren sich viele Frauen und Männer. Wir gehen einer Kirche entgegen, in der Pastoral und das religiöse Leben von einer großen Vielfalt von Menschen getragen wird. Das ist eine Bereicherung. Damit rückt auch das "gemeinsame Priestertum aller Gläubigen" neu in den Blick.
„Wir leben noch immer viel zu sehr auf Kosten künftiger Generationen. Das muss sich ändern.“
Frage: Anspruch der Kirchen ist es auch, sich in wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen zu Wort zu melden. Stichwort: Umweltschutz. Der UN-Klimagipfel von Doha ist vor wenigen Tagen krachend gescheitert. Wo sehen Sie die christliche Verantwortung bei der Wahrung der Schöpfung?
Zollitsch:Wir sind enttäuscht über das Ergebnis des Gipfels. Denn es ist ein ganz wichtiges christliches Anliegen, Gottes Schöpfung zu wahren, zu schützen und sie nicht auf Kosten der kommenden Generationen auszubeuten. Heidegger sprach vom Menschen als "Hirten des Seins". In diesem Zusammenhang könnten wir auch vom "Hirten der Schöpfung" reden. Deshalb setzen wir Christen uns intensiv für Umweltschutz und Nachhaltigkeit ein. Ich erinnere an den ökumenisch gefeierten "Tag der Schöpfung". Wir leben noch immer viel zu sehr auf Kosten künftiger Generationen. Das muss sich ändern. Darauf drängen wir.
Frage: Aber zeigen nicht beispielsweise die Diskussionen über ethische Fragen - Stichworte vorgeburtliche Diagnostik, Embryonenforschung -, dass die moralische Prägekraft der Kirchen in der Gesellschaft schwindet?
Zollitsch: Wir spüren, dass sich ein technisches Denken zunehmend Bahn bricht. Immer mehr Menschen glauben, dass alles technisch oder medizinisch Mögliche auch erlaubt sein soll. Die moralischen und ethischen Fragen treten immer stärker in den Hintergrund. Die Kirchen sind aber genau hier Anwälte des Menschen. Der Mensch kann nicht über den Menschen verfügen, sondern seine Würde ist unantastbar: vom Augenblick der Zeugung bis zum Tod. Der Mensch darf sich nicht zum Herrn über Leben und Tod machen. Mit dieser Botschaft werden wir nicht lockerlassen. Wir haben als Kirche Entscheidendes zum Schutz des Lebens und der unantastbaren Würde des Menschen zu sagen.
Frage: Wie bewerten Sie die aktuelle Suche nach einer neuen gesetzlichen Regelung mit Blick auf Beihilfen beim Suizid?
Zollitsch: Selbst der Gesetzentwurf der Bundesregierung lässt aus kirchlicher Sicht wichtige Dinge außer Acht. Der Mensch soll nicht durch die Hand, sondern an der Hand eines anderen sterben. Deshalb lehnen wir jede Form der Beihilfe zum Suizid ab, sei sie nun gewerblich organisiert oder nicht.
„Die Art und Weise der Diskussion um religiös begründete Beschneidungen belegt, dass es hierzulande immer weniger Verständnis für Religion gibt.“
Frage: Hoch schlugen die Wellen 2012 in der Debatte um religiöse begründete Beschneidungen von Jungen im Judentum und Islam. Es gab teils stark religionskritische Töne. Zeigt diese Debatte, dass Religionen in Deutschland mittlerweile stark in die Defensive geraten sind?
Zollitsch: Die Art und Weise der Diskussion belegt, dass es hierzulande immer weniger Verständnis für Religion gibt. Die Kritik an der mehr als zwei Jahrtausende alten Tradition, wonach männliche Juden durch die Beschneidung in den Bund mit Gott aufgenommen werden, ist ein Zeichen dafür, dass unserer Gesellschaft immer mehr die Toleranz abhandenkommt für das, was anderen wichtig ist. Das ist gefährlich.
Frage: Sie vollenden 2013 Ihr 75. Lebensjahr. Ihre Amtszeit als Vorsitzender der Bischofskonferenz läuft bis 2014: Welche Themen, Projekte möchten Sie gerne noch anstoßen und abschließen?
Zollitsch: In den vergangenen Jahren habe ich einiges anstoßen und bewegen können. Besonders wichtig wäre mir, den begonnenen und bisher erfolgreichen Dialogprozess und die Initiativen zur Neuevangelisierung möglichst weit voranzubringen.
Frage: Worauf freuen Sie sich an Weihnachten 2012 ganz besonders?
Zollitsch: Weihnachten ist für mich vor allem ein Fest der Besinnung. Da gehören die Krippe dazu und natürlich der Christbaum. Der Höhepunkt ist für mich der Festgottesdienst am ersten Feiertag im Freiburger Münster. Da wird die ansteckende Kraft der weihnachtlichen Freude in besonderer Weise spürbar. Zugleich hoffe ich, dass Weihnachten zu einem Fest des Friedens wird in unserer Gesellschaft. Das heißt auch, weniger Gegensätze gegeneinander auszuspielen und uns mehr auf das Verbindende besinnen. Aber auch mit Blick auf die aktuellen Krisenregionen im Nahen Osten, im Heiligen Land, in Syrien und auch Ägypten. Es ist mir ein Herzensanliegen, dass Weihnachten 2012 einen neuen Anstoß gibt, sich um jenen Frieden, den die Engel vor 2.000 Jahren verkündet haben, wieder neu und verstärkt zu bemühen.
Das Interview führte Volker Hasenauer