Timmerevers: Sachsen brauchen keine Belehrung, wen sie wählen sollen
Sachsen war in den vergangenen Jahren immer wieder in den Schlagzeilen. Die fremdenfeindliche Pegida-Bewegung, die Wahlerfolge der AfD und zahlreiche Übergriffe auf Ausländer haben dem Image des Freistaats bundesweit schweren Schaden zugefügt. In diesem September wird in Sachsen nun ein neuer Landtag gewählt. Wie ist mit Blick auf diese Wahl die politische Stimmung im Land? Und was wäre, wenn die AfD die Wahl gewinnen würde? Im katholisch.de-Interview nimmt der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers zu diesen Fragen Stellung. Außerdem spricht er über die laufende Strukturreform in seinem Bistum und die Zukunft des Katholizismus in Sachsen.
Frage: Herr Bischof, am 1. September wird in Sachsen ein neuer Landtag gewählt. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf diese Wahl?
Timmerevers: Jugendliche werden sagen: Keep calm! – Ich bin gelassen! Sachsen hat bewiesen, es kann Demokratie. Das haben die Menschen hier nicht erst 1989 bewiesen, sondern auch 1953. Dieses Land hat mutige Menschen, die sich für ihre Überzeugungen leidenschaftlich einsetzen. Die Sachsen brauchen keine Belehrung, wen sie wählen sollen. Ich möchte die Bürger darin bestärken, das Gute zu sehen und den Blick dafür zu schärfen, was den Menschen Schaden zufügt. Denn sie haben sich die Freiheit erkämpft und damit die gemeinsame Verantwortung für dieses Land. Wenn wir danach fragen, wie wollen wir hier in Zukunft leben, wie wollen wir unser Miteinander in der Gesellschaft gestalten, dann frage ich danach, was den Menschen Zuversicht und Hoffnung schenkt. Mit dieser Frage kann man die Wahlprogramme einmal prüfen. Ich wünsche mir, dass man dabei nicht nur in Landesgrenzen denkt.
Frage: In den vergangenen Jahren stand Sachsen bundesweit immer wieder am Pranger – vor allem wegen der fremdenfeindlichen Pegida-Bewegung und der Wahlerfolge der AfD. Wie steht es jetzt – sieben Monate vor der Wahl – um das politische Klima im Freistaat?
Timmerevers: Es knistert im Land, weil alle gespannt auf den 1. September schauen. Ich erlebe eine Staatsregierung, die aktiv und offensiv unterwegs ist. Man hat aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und arbeitet an Lösungen. Ich erlebe eine Opposition, die in weiten Teilen mit anderen Perspektiven die demokratische Debatte belebt. Bei meinen Besuchen in den Pfarreien und in Begegnungen mit unterschiedlichen Gruppen nehme ich ein waches Interesse an politischen Themen wahr. Dabei ist auch deutlich Resignation erkennbar. Einige fragen: Was ist von den großen Hoffnungen der Friedlichen Revolution geblieben? Werden Globalisierung, Mobilisierung und Digitalisierung für die Menschen in unserem Land zum Segen oder eher zum Fluch? Ich nehme bei den Menschen Unsicherheit und Angst vor der Zukunft wahr. Manchmal drängt es mich, in den Begegnungen mit den Menschen der Botschaft des Evangeliums mehr Raum zu geben. Bei allen Problemen und Herausforderungen sage ich: Werft eure Zuversicht nicht weg!
„Ich finde es nicht hilfreich, wenn emotionsgeladener Protest sich auf Wahlzetteln niederschlägt.“
Frage: Nachdem die AfD schon bei der Bundestagswahl 2017 in Sachsen knapp stärkste Partei war, könnte sie nach aktuellen Umfragen auch aus der Landtagswahl als Siegerin hervorgehen. Was würde das für Sachsen bedeuten?
Timmerevers: So eindeutig sind die Umfrageergebnisse nicht. Bis zur Wahl sind es noch sechs Monate; wir wissen, wie sehr unvorhergesehene Ereignisse Stimmung machen und sich in Wahlergebnissen wiederspiegeln. Am Wahlabend haben wir als Demokraten das Wahlergebnis, das wir zu akzeptieren haben. Und dann muss man das Beste daraus machen. Für mich, und ich glaube auch für sehr viele Christen in unseren Kirchen, ist klar, dass die freiheitliche Demokratie die beste Staatsform ist, die wir haben. Wie sehr, mit wie vielen Opfern, haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes darum gerungen. Freiheitliche Demokratie braucht Menschen, die Demokratie leben und gestalten. Sie braucht Tugenden, weil nicht alles über Gesetze regelbar ist. Demokratie lebt vom Zusammenstehen und dem beständigen Arbeiten daran, Spaltungen innerhalb der Gesellschaft zu überwinden. Ich finde es nicht hilfreich, wenn emotionsgeladener Protest sich auf Wahlzetteln niederschlägt. Ich lasse mich eher davon leiten, alles zu prüfen und mich dafür zu entscheiden, was dem Menschen, der Freiheit und dem Land dient, in dem er lebt.
Frage: Die Katholische Akademie Ihres Bistums hat mit Blick auf die Landtagswahl die Aktion "SachsenSofa" ins Leben gerufen. Dabei diskutieren Persönlichkeiten aus Politik und Zivilgesellschaft in kleineren sächsischen Gemeinden mit den Menschen vor Ort über aktuelle gesellschaftliche und politische Fragen. Was ist das Ziel dieser Aktion?
Timmerevers: Das "SachsenSofa" ist unser Projekt als katholische Kirche, weil wir zwei Erfahrungen machen: Erstens wollen wir die Menschen gerade in den ländlichen Regionen des Freistaats mit Personen ins Gespräch bringen, die man sonst eher nur im Fernsehen oder Radio wahrnimmt. Es ist der Versuch, die Kluft zwischen "unten" und "oben" zu minimieren. Das Beschimpfen von Politikern, wie am 3. Oktober 2016 vor der Dresdner Frauenkirche, das habe ich miterlebt, ist wirklich kein freundlicher und fairer Umgang mit Menschen. Ich möchte sie einladen, mit aufs Sofa zu kommen und Sachsen von einer anderen, einer dialogbereiten Seite zu erleben. Deswegen ist das Sofa auch kein Treffen für Politiker, sondern eine Einladung zum Gespräch. Ein Zweites – und dieser Aspekt ist mir sehr wichtig: Es ist meine Erfahrung, dass vieles auf einen guten Weg kommt, wenn wir Hörende bleiben. Dabei geht es nicht nur um das Hören auf das Wort Gottes, sondern auf das, was die Menschen bewegt. Mit dem "SachsenSofa" sind wir als Kirche vor Ort. Es ist so konzipiert, dass immer einer der Gäste eine christliche Perspektive ins Gespräch mit einbringt, und gleichzeitig hören wir hin, was die Menschen zu sagen haben, wo ihnen der Schuh drückt. Ich glaube, das ist für alle eine Bereicherung.
Frage: Sie selbst nehmen ebenfalls auf dem "SachsenSofa" Platz – am heutigen Dienstagabend im mittelsächsischen Bobritzsch-Hilbersdorf. Gemeinsam mit Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmar diskutieren Sie dort über das gesellschaftliche Miteinander. Wie bewerten Sie dieses Miteinander in Sachsen derzeit?
Timmerevers: Sachsen ist bunt. Bei allen Unterschieden ist auch eine Sehnsucht nach Verständigung darüber spürbar: Was gibt uns Identität? Welche Fundamente sollen uns künftig gemeinsam tragen? Welche Prägungen heben sich für unser Land heraus? Bei diesem Suchen, in diesem Verständigungsprozess wollen wir christliche Werte einbringen und bei den Debatten aufmerksam bleiben, dass die Würde eines jeden Menschen gewahrt bleibt. Daran immer wieder zu erinnern, sehe ich als Aufgabe der Christen.
Frage: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat vor kurzem in einem "Zeit"-Interview gesagt, dass sie den Frust vieler Menschen in Ostdeutschland angesichts der nach wie vor großen Unterschiede zwischen Ost und West nachvollziehen könne. "Das Land war vielleicht nie so versöhnt, wie man dachte", so Merkel wörtlich. Teilen Sie ihre Einschätzung?
Timmerevers: In den vergangenen zwei Jahren war ich in unseren Pfarreien in Sachsen und Ostthüringen unterwegs und bin mit vielen Menschen ins Gespräch gekommen. Eine wichtige Erkenntnis habe ich dazu gewonnen: Mit der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung gab es keineswegs nur Gewinner, sondern auch viele Verlierer. Viele Gewinner kamen aus dem Westen Deutschlands, im Osten waren alle Bürger von heute auf morgen mit vielen Frage konfrontiert: Was wird mit mir? Behalte ich meine Arbeit? Kann ich meine Familie ernähren? Was ist mit meiner Rente? Die Friedliche Revolution hat vieles an Verletzungen und Unrecht beendet. Aber es gab auch viele Menschen, die ihr Leben "neu erfinden" mussten. Nicht wenige wurden in ihren Erwartungen und Hoffnungen schwer enttäuscht. Was hier an Schuld und Versagen geschehen ist, bedarf einer Klärung, das ist die Voraussetzung dafür, dass Versöhnung und Verständigung auf eine gemeinsame Zukunft hin möglich werden.
Frage: Was müsste Ihrer Ansicht nach getan werden, um das Gefühl der Benachteiligung bei den Menschen in Ostdeutschland aufzulösen?
Timmerevers: Es wird im Augenblick viel über materielle Anerkennung, wie etwa bessere Renten und eine Angleichung der Löhne gesprochen. Das ist nach 30 Jahren überfällig. Das wird helfen, aber es wird nicht heilen! Mir scheint, wir müssen viel mehr miteinander sprechen: Zwischen Stadt und Land, zwischen Alt und Jung, zwischen Ost und West. Wir brauchen den Mut, die Geschichte des Anderen zu hören, zu verstehen. Das ist eine Voraussetzung, um miteinander den Weg in die Zukunft zu suchen. Ich will ein Beispiel nennen: 1968. Während die Katholiken in den alten Bundesländern von Revolution und auf dem Katholikentag in Essen von Aufbruch sprechen, verbinden die Menschen in Mitteldeutschland diese Jahreszahl mit dem Prager Frühling. Wenn wir uns gegenseitig die Erfahrungen erzählen, die wir mit 1968 gemacht haben, dann kann daraus etwas erwachsen. Vielleicht wächst daraus die gemeinsame Sehnsucht, unser Land und auch Europa in Freiheit zu gestalten.
„Die Menschen mit Christus in Berührung zu bringen, das gelingt umso besser, je mehr wir selbst uns immer wieder von Christus berühren lassen.“
Frage: Blicken wir auf Ihr Bistum: Die noch von Ihrem Vorgänger Heiner Koch unter dem Titel "Erkundungsprozess" initiierte Bistumsreform, bei der unter anderem bislang eigenständige Pfarrgemeinden zu sogenannten Verantwortungsgemeinschaften zusammengeschlossen werden, befindet sich langsam auf der Zielgeraden. Wie fällt Ihre Bilanz der Reform aus?
Timmerevers: Die Zeit für eine Bilanz ist noch nicht da. Der sogenannte "Erkundungsprozess" ist eine bleibende Herausforderung, es ist die Aufgabe, dass wir uns als Kirche, als Pfarrei immer wieder die Frage stellen: Wofür sind wir als Kirche da? Der Prozess, das Ringen miteinander nach Wegen, wie wir im Heute Kirche sein können, kann daher nie abgeschlossen sein. Die Pfarreien machen unterschiedliche Erfahrungen. Es ändern sich liebgewordene Strukturen und die Bereitschaft zur Flexibilität und einer Ausrichtung nach vorn, in die Zukunft, fordert viel Mühe. Ich erlebe gelingende Prozesse und sehe, wie ein Vertrauen zwischen den Gemeinden und anderen kirchlichen Orten, wie Kindergärten, Senioreneinrichtungen, kirchlichen Schulen und Beratungsstellen wächst. Wir sind mittendrin!
Frage: In einem katholisch.de-Interview haben Sie im Jahr 2017 zwei Fragen formuliert, die quasi als Zielvorgaben über der Reform stehen sollten: "Wie kann es uns als Kirche gelingen, mit der Botschaft des Evangeliums den Menschen und der Gesellschaft zu dienen? Und wie schaffen wir es, dass jeder Mensch in Sachsen und Ostthüringen irgendwann in seinem Leben Christus begegnet?" Sind Sie den Antworten auf diese Fragen inzwischen näher gekommen?
Timmerevers: Diese Fragen sind quasi eine Art Leitfaden für unsere Prozesse und unsere Pastoral. Die Fragen kann ich nicht allein beantworten. Da sind alle Getauften und Gefirmten gefragt, das ganze Volk Gottes. Alle sind berufen, in ihrem Leben und mit ihm Christus zu bezeugen. Die Menschen mit Christus in Berührung zu bringen, das gelingt umso besser, je mehr wir selbst uns immer wieder von Christus berühren lassen, von seinem Wort, von seinem Weg und vor allem von seiner Liebe. In den Begegnungen in unseren Gemeinden erlebe ich junge und alte, erfahrene und suchende Menschen, die sich mit Freude auf Christus einlassen. Ich erlebe das als sehr frohmachend.
Frage: Sehen Sie Ihr Bistum durch die Reform gut gerüstet für die Zukunft? Immerhin müssen Sie davon ausgehen, dass die Zahl der Gläubigen und die frei verfügbaren finanziellen Mittel schon mittelfristig stark zurückgehen werden.
Timmerevers: Ich erlebe ein vitales Bistum mit über 140.000 Katholiken. Wir sind ein kleiner Sauerteig, aber nicht ohne Wirkung! Und was die Zukunft betrifft: Die Christen haben in den Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts vielfältige Bedrängnisse ausgehalten und überwunden. Sie stellen sich zuversichtlich der Zukunft.