Passionsspiele: Opulente Spektakel von Tod und Auferstehung
Die bekannteste Ausgabe ist jene in Oberammergau, die es immer wieder auch in überregionale Medien schafft: Ein Jahr vor der Aufführung der "Oberammergauer Passionsspiele" gehen die Mitspieler das letzte Mal zum Friseur, danach wachsen Haupt- und Barthaar bis zur Aufführung unkontrolliert weiter. Das stundenlange Spektakel in der oberbayerischen Provinz lockt alle zehn Jahre, das nächste Mal 2020, hunderttausende Zuschauer in den kleinen Ort. Auf der Bühne bewegen sich zum Teil ganze Tierherden, um das biblische Geschehen wirklichkeitsnah in Szene zu setzen.
Die Oberammergauer sind in guter Gesellschaft: In vielen Orten des süddeutschen Raumes, in Österreich, Südtirol und auch manchen osteuropäischen Ländern gibt es Passionsspiele, die aus den biblischen Erzählungen ein zum Teil opulentes Schauspiel machen – und deren Wurzeln direkt in das Gottesdienstgeschehen führen.
Die Karfreitags- und Osterliturgie des Mittelalters ist deutlich szenischer, als es heute üblich ist: Am Freitag wird ein Kreuz in ein Grab gelegt und in der Osternacht wieder erhoben, Tod und Auferstehung Jesu also ganz direkt dargestellt. Mancherorts werden am Grab die Frauen und der Engel von Dorfbewohnern dargestellt und es gibt einen kleinen Dialog. Von da aus wachsen die Passionsspiele und werden um immer neue Szenen erweitert.
Begünstigt wird diese Entwicklung von einer geänderten Volksfrömmigkeit im 12. und 13. Jahrhundert. Wurde bis dahin Jesus vor allem als Herrscher dargestellt, der selbst durch die Kreuzigung nichts von seiner würdigen Haltung verliert, steht nun Christus als fühlender Mensch im Vordergrund, der geboren wird, leidet und stirbt. An diesen menschlichen Regungen wollen die Gläubigen dieser Zeit Anteil nehmen.
Für die Passionsspiele werden in der Regel Szenen aus den vier Evangelien zusammengestellt – und mit der Zeit wächst der Umfang der Texte: Im Spätmittelalter sind aus den ursprünglich nur von Tod und Auferstehung Jesu erzählenden Stücken Darstellungen der gesamten Heilsgeschichte geworden, vom Leben im Paradies bis zum Jüngsten Gericht. Mit der Passionsgeschichte im Mittelpunkt dieses Reigens soll deren besondere Stellung in der Vollendung des Reiches Gottes verdeutlicht werden.
Der Barock bringt die Burleske
Einen weiteren Aufschwung erleben die Spiele in der Barockzeit: Beeinflusst von anderen religiösen Dramenformen, wie etwa den von buntem Bühnentreiben bestimmten Jesuitendramen, verändern sich die Passionsspiele. In barocker Opulenz werden sie dramatischer, Nebencharaktere werden legendenhaft ausgeschmückt und zu Identifikationsfiguren umgestaltet. Nicht selten bekommen diese Spiele aber auch eine komödiantische Note. So entsteht eine große Vielfalt: An manchen Orten bleiben die Stücke nah an ihrer liturgischen Funktion, lehnen sich eng an die Bibel an und enthalten als Musik Choräle, die die Zuschauer mitsingen. Dagegen entstehen andernorts Großformen mit einem starken Bühnencharakter und festlicher, eigens komponierter Orchestermusik.
Besonders die burlesken Auswüchse der Passionsspiele besiegeln dann aber vielerorts auch ihr Ende: In der Zeit der Aufklärung stehen Vernunft und Rationalität hoch im Kurs, bäuerliche Spiele passen da nicht. Man empfindet sie der erhabenen Religion als unwürdig und macht sie lächerlich. Mit den Passionsspielen verschwinden viele szenische Liturgieformen, die in vergangenen Tagen noch als sehr zeitgemäß gegolten hatten. Die im Lichte des Geistes praktizierte Religion steht stattdessen nun im Mittelpunkt.
Wiederkehr im 20. Jahrhundert
Doch vor etwa einhundert Jahren, kurz nach dem ersten Weltkrieg, erwachen viele Passionsspiele aus ihrem Dornröschenschlaf. Grund dafür ist eine Bewegung in der Pädagogik: Man sieht das Mitmachen nun als Instrument der Bildung. Gleichzeitig gibt es eine neue Wertschätzung für die Möglichkeit, Evangelientexte in der Gemeinschaft unmittelbar miterleben zu können. Im Zuge dessen leben besonders die von Laien getragenen Passionsspiele wieder auf.
Eine weitere Welle von Wiederbelebungen folgt in den 1980er Jahren. Waren die vom Klima der Studentenproteste geprägten 1960er Jahre von einer Haltung des kritischen Hinterfragens des Glaubens und seiner Institutionen bestimmt, wendet man sich nun wieder alten Traditionen zu. Es kommt zu einer Renaissance der Folklore.
Das bekannteste Passionsspiel hat aber alle Wirren der Zeit überstanden: In Oberammergau legten die Menschen 1633 ein Gelübde ab, alle zehn Jahre ein Stück aufzuführen, wenn keine Dorfbewohner mehr an der damals grassierenden Pest sterben würden. Als Gemeinschaftseid geleistet, darf auch heute noch jeder Dorfbewohner an der Aufführung teilnehmen, ganze Familientraditionen haben sich darum entwickelt. Dieser Gemeinschaftsgedanke schließt niemanden aus: So wird der Judas 2020 von einem Muslim gespielt. Nur zwei Mal fiel das Stück aus: 1780 in Klima der Aufklärung und 1940 wegen des Zweiten Weltkriegs. Jedes Mal sind etwa 2000 Oberammergauer dabei, wenn das Leiden und Sterben Jesu auf die (buchstäblich) große Bühne kommt. Anfangs hat das Spiel dagegen noch auf dem Friedhof über den Gräbern der Pesttoten stattgefunden.
Die Oberammergauer sind im 21. Jahrhundert wieder in guter Gesellschaft größerer und kleinerer Passionsspiele überall in der Region. Trotz einer gewissen Entfernung der Stücke vom Inhalt der kirchlichen Liturgie, bildet der Glaube an den auferstandenen Christus auch heute noch den Mittelpunkt eines jeden Passionsspiels. Sie scheinen zudem eine neue Berechtigung gefunden zu haben: In einer Zeit geringer werdenden Glaubenswissens machen sie das biblische Geschehen präsent und greifbar für Menschen unterschiedlicher Altersklassen und sozialer Hintergründe.
Wegen der nachhaltigen Wirkung, die Barock und Gegenreformation in Bayern und Österreich entfalten konnten, findet man die Spiele bis heute vor allem dort. Doch auch anderswo gibt es diese Tradition: Neben Italien, Polen, Slowenien, Frankreich, den USA und den Niederlanden gibt es sie auch auf den Philippinen – und inspiriert vom Oberammergauer Vorbild mittlerweile sogar in Indien.