Tätowierungen: "Untilgbare Prägemale" mit tiefer Bedeutung
Heutzutage sind Tätowierungen allgegenwärtig: Sie finden sich nicht mehr ausschließlich auf der Haut von Seeleuten oder Motorradfahrern, sondern werden auch von Büroangestellten oder Managern getragen. Auch wenn viele Tattoos keine ausdrücklich religiöse Botschaft haben, gibt es doch eine enge Verbindung zwischen Tätowierungen und Glaubensüberzeugungen. Was antike Kulturen, mittelalterliche Franziskaner und pilgernde Weltenbummler mit Tattoos zu tun haben, erklärt der Theologe und Schriftsteller Paul-Henri Campbell, der ein Buch mit dem Titel "Tattoo & Religion" geschrieben hat.
Frage: Wie sind Sie dazu gekommen ein Buch über die Verbindung von Tattoos und Religion zu schreiben? Sind Sie selbst tätowiert?
Campbell: (Lacht) Gemeinsam mit einer befreundeten Tätowiererin ist die Idee entstanden, etwas über die christliche Ikonografie von Tätowierungen zu machen. Bei ihr im Studio, aber auch bei vielen anderen Tätowierern habe ich Workshops und Vorträge zu diesem Thema gehalten. Dabei habe ich gemerkt, dass ich selbst noch viel mehr zuhören müsste, um diese Zeichen zu verstehen. So kam es, dass ich mit anderen Tattoo Artists, aber auch Kunsthistorikern, einem Ordensmann und einem Tankstellenbesitzer darüber geredet habe. Daraus sind die Interviews entstanden, die zu dem Buch führten.
Frage: Warum lassen sich Menschen überhaupt tätowieren?
Campbell: Warum beten Menschen den Rosenkranz? Auf Ihre Frage, gibt es nicht die eine Antwort. Eine Person lässt sich aus zehn verschiedenen Gründen tätowieren. (Lacht) Ein Tattoo ist etwas, das man nah an sich haben möchte – etwa den Namen des Partners oder der Kinder. Das sind ja heute fast schon Klassiker. Aber auch Dinge, für die man einsteht, die einem wichtig sind, werden oft zu Tätowierungen: Der Lieblingsschauspieler, die Lieblingssängerin, der Lieblingsfilm, Padre Pio und Al Pacino. Oder ein Symbol, von dem man sich Schutz oder Trost erhofft. Das sind Dinge, bei denen es für Menschen wichtig sein kann, sie an sich selbst zu dokumentieren.
Frage: Dann ist man auch sehr schnell beim Thema Religion…
Campbell: Ganz genau. Wenn man einen weiten Religionsbegriff verwendet, kommt man schnell dorthin. Beide Themen haben eine enge Geschichte, besonders in Bezug zum christlichen Glauben. Tätowierungen sind bereits vor dem Christentum in der Antike allgegenwärtig. Bei den Thrakern, den Galatern, den Römern sind sie sehr präsent. Ich denke da etwa an die römischen Tätowierungen für Verurteilte oder Legionäre. Tattoos hatten aber immer verschiedene Bedeutungen: Sie können ein Zeichen der Gruppenzugehörigkeit sein oder auf eine Strafe hinweisen. Das ist das Biotop, in dem sich auch das frühe Christentum wiederfindet. Der Apostel Paulus spricht in seinem Brief an die Galater in der Schlussformel die Gemeinde direkt an und sagt: "Ich trage die Leidenszeichen Jesu an meinem Leib." (Gal 6,17) Das griechische Wort dafür ist "Stigma", also wörtlich übersetzt Malzeichen und nicht, wie in der Bibelübersetzung schon theologisch interpretiert, Leidenszeichen. In dem Wort erkennt man die indogermanische Wurzel für den Ausdruck "stechen" oder "stitching".
Frage: Sind nach der Antike die Tätowierungen aus dem Christentum verschwunden?
Campbell: Nein. Tätowierungen begleiten das Christentum durchgehend. Sie haben im Christentum sogar eine längere Tradition als die tridentinische Messe. Im Mittelalter versuchten die Franziskaner im Rahmen ihrer Passionsfrömmigkeit die Leiden Christi nachzuahmen und erfahrbar zu machen – auch mit Tattoos. In dieser geistlichen Tradition gibt es nicht nur Stigmatisierte, sondern auch Tätowierte. Man findet in vielen Pilgerberichten Erzählungen darüber, dass in Jerusalem, Loreto, Santiago de Compostela oder auf dem Balkan besonders Franziskaner die vielen Wallfahrer tätowiert haben. Auch die Kreuzzügler haben sich tätowiert, um christliche Zeichen an sich zu tragen – denn zur damaligen Zeit war es nicht so einfach, Papier oder andere Gegenstände mit sich herumzutragen. Der Körper war das stabilste Medium, um die Zeichen der Christenheit abzubilden. Das ist nicht verwunderlich, denn es gab keine noch so entlegene Grotte und keinen noch so hohen Berg, dass man dort nicht auch ein Kreuz platziert hätte. Warum sollte man nicht einfach mit dem eigenen Körper anfangen?
Frage: Aber waren Tattoos im Mittelalter denn überhaupt so verbreitet?
Campbell: Man kann heute über wenige Dinge im Mittelalter – aber auch in der Antike – eine genaue Statistik erstellen. Jan Assmann zählte Tätowierungen, die sogar schon in der altägyptischen Religion vorkamen, zu kulturellen Phänomenen wie Tänzen oder Riten. Es gibt sie auf jeden Fall, sie erscheinen hie und da auf archäologischen Funden, aber die Informationen sind nicht genug, um systematische Aussagen darüber zu machen. Man kann aber anhand von gut gesicherten Erkenntnissen, begründet spekulieren: Man weiß etwa, dass im Mittelalter Marken und Erkennungszeichen allgegenwärtig waren, dass sie überall angebracht wurden und auch dass die Religion des Mittelalters sich bewusst zur Schau stellte. Schauen Sie sich die christlichen Kunstwerke an: es gibt kein Material, keinen Pinienkern und keinen Edelstein, der nicht zum Träger christlicher Symbole geworden wäre. Hautfetzen, Schädel, sogar Gehörknöchelchen erklärte man zu Reliquien. Liturgische Gewänder, Kirchenfenster, Fresken erzählen die kollektive Geschichte. Tonsur, Ölung, Kasteiung, Waschung und Beschneidung gehörten zum Kernbestand religiöser Techniken zur Veränderung des Körpers. Warum sollte man also nicht davon ausgehen, dass in jener Zeit auch Tattoos mit ihrer besonderen Zeichenfunktion dem Körper einen besonderen Ausdruck gegeben haben?
Frage: Gibt es denn gesicherte Fälle von Tätowierungen im Mittelalter?
Campbell: Dokumentiert sind Tattoos etwa bei der rheinischen Seligen Christina von Stommeln aus der Nähe von Köln. In zeitgenössischen Briefen über diese Frau werden ihre Tätowierungen geschildert und ausdrücklich als Zeichen ihrer Erwählung durch Gott gewertet. Ein anderer Geistlicher, bei dem Tätowierungen bezeugt sind, ist der dominikanische Mystiker Heinrich Seuse. Er hatte sich das Christusmonogramm auf die Brust tätowiert. Es gibt sogar Handschriften, die ihn mit dieser Eingravierung zeigen. Das sind zwei Beispiele. Doch auch heutige Christen haben Tätowierungen, denn sie leben nun einmal nicht isoliert von der Gesellschaft, in der Tattoos eine Selbstverständlichkeit sind.
Frage: Wenn man an eine traditionelle Kirchengemeinde denkt, passen Tätowierungen zunächst nicht in das typische Bild, das man von deutschen Katholiken im Kopf hat...
Campbell: Vielleicht nicht jene Katholiken, die man in den Kirchenbänken sieht. Aber das sind ja nur zehn Prozent der Gläubigen. Ich glaube, die anderen 90 Prozent der Katholiken wissen sehr genau, mit welchen religiösen Zeichen und Praktiken sie sich wohl fühlen, was sie für sich selbst brauchen. Aber die gegenwärtige depressive "Orangentee-Theologie", die in den Grabenkämpfen der 1970er-Jahre festklebt, hat keinen Blick für das, was möglich ist. Man spricht seit 30 Jahren davon, "an die Ränder der Gesellschaft" zu gehen, dabei ist die institutionelle Kirche selbst eine periphere Marginalie. Das kann sich aber ändern, zum Beispiel durch eine aufrichtige Wertschätzung für das vielfältige Streben nach individuellen Ausdrucksformen jedes Gläubigen.
Frage: Tattoos sind in den letzten Jahrzehnten zu einem Massenphänomen geworden – und das trotz einer starken Individualisierungstendenz in der Gesellschaft. Wie ist es dazu gekommen?
Campbell: Ja, es ist eigenartig, dass ich mich entscheide, ein spezifisches Bild an mir festzumachen – in einer Zeit, in der ich meist schon vor dem Frühstück hunderte Fotos in den sozialen Netzwerken beim schier endlosen Runterscrollen gesehen habe. Diese Popularität hat viele Gründe, klar. Zum einen sind das sicher die Vorbilder: Man sieht recht häufig tätowierte Menschen im Internet oder im Fernsehen – auch bei MTV, das ein Meilenstein bei der Popularisierung der Tattoos war. Zum anderen sind Tätowierungen heute sehr einfach verfügbar: Man muss nicht in die dunkle Rockerkneipe gehen, in der ein Tätowierer einmal die Woche sticht, sondern es gibt in allen größeren Innenstädten saubere und top-professionelle Tattoo-Studios.
Frage: Was waren die beeindruckendsten Tätowierungen, die sie gesehen haben?
Campbell: Es ist nicht so sehr diese oder jene Tätowierung. Vielmehr haben mich die Lebenswege der Tätowierer fasziniert. Niemand hat einen geregelten Weg in diesem Beruf gehabt, sondern wirklich alle waren Suchende, die sich für ihre Kunst eingesetzt haben und letztlich damit Erfolg hatten. Ihre Arbeit ist von Respekt für ihre Kunden gekennzeichnet, verbunden mit Vertrauen, Professionalität und Kooperation. Beeindruckt haben mich Tätowierer wie Henk Schiffmacher, der etwa Lady Gaga tätowiert hat, aber sich als Katholik ganz intensiv mit der religiösen Dimension seiner Kunst beschäftigt und zahlreiche Artefakte dazu gesammelt hat. Beeindruckt hat mich auch die Familie Razzouk in Jerusalem, die seit 700 Jahren Pilger in der Stadt tätowiert. Überrascht hat mich, dass fast allen Tätowierern diese Verbindung von Religion und Tätowierung sofort eingeleuchtet hat.
Frage: Was meinen Sie, ist der besondere Zusammenhang zwischen Tattoo und Religion?
Campbell: Natürlich gibt es die betenden Hände, Rosenkränze oder Bibelverse, also alle diese klassisch christlichen Symbole. Außerdem gibt es christliche Traditionen wie in Ägypten oder Eritrea, wo die Tätowierung einen festen Bestandteil des Glaubenslebens bildet. Und man könnte nun sagen: Das ist die religiöse Tätowierung. Was ich aber grundsätzlicher für eine christliche Brücke zur Tätowierung halte, ist etwa die Bezeichnung, die wir auch für die Taufe verwenden: character indelebilis, ein untilgbares Prägemal. Es geht mit der Entschiedenheit einher, sich ein Zeichen zu geben. Das finde ich noch wesentlicher als das ein oder andere Motiv oder Ornament.