Katastrophe an Christi Himmelfahrt 1573

Kathedrale von Beauvais: Der französische Turmbau zu Babel

Veröffentlicht am 30.05.2019 um 13:10 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die mittelalterlichen Bauherren planten ein christliches Weltwunder: Die neue Kathedrale von Beauvais sollte alles Bekannte in den Schatten stellen – Notre-Dame, Alt-Sankt-Peter und sogar Amiens. Doch mit ihrem Stolz beschworen sie eine Katastrophe herauf.

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So stolz wie Nebukadnezar soll er gewesen sein, das berichten die Reimser Chroniken über Bischof Milo de Nanteuil. Und als ein Brand den karolingischen Dom von Beauvais verwüstete, sah er seine Chance, den Ruhm seines Bistums in steinerne Ewigkeit zu gießen: Er gab eine gotische Kathedrale als neue und prächtige Heimstatt für den Bistumspatron, den heiligen Petrus, in Auftrag. Sein Bau sollte die Pariser Notre-Dame in den Schatten stellen, sollte größer sein als selbst Alt-Sankt-Peter in Rom – aber vor allem sollte sie die Kathedrale von Amiens übertreffen. In der 50 Kilometer entfernten Bischofsstadt hatte man fünf Jahre zuvor mit einer Kathedrale begonnen.

1204 hatte König Philipp II. die Normandie erobert. Die Grenze des Königreichs Frankreichs verschob sich bis an den Atlantik. Der Sieg über die Normannen machte aus der bis dahin strategisch wichtigen Grenzstadt Beauvais plötzlich eine friedvolle Enklave. Damit wurden die bischöflichen Mittel frei, die jahrelange Kriege an der Seite des französischen Königs gebunden hatten. Im neuen Stil der Gotik sollten Gotteshäuser das Himmlische Jerusalem auf Erden darstellen. Im beginnenden 13. Jahrhundert entbrannte zwischen den nordfranzösischen Städten ein Wettlauf um die größte Kathedrale.

Revolution der Baukunst

Doch wie plante man damals Gotteshäuser von solcher Größe? Das gelang mit der technischen Revolution der Gotik: der maßstäblichen Architekturzeichnung. Die Grundlage des neuen Baustils war die geometrische Konstruktion. Mit der gezeichneten Vorlage zum Beispiel im Maßstab 1:10 konnte man ein exaktes Modell eines Bauelements herstellen. Anhand dessen konnte man sie auch vervielfältigen. Und Zeichnung und Modell der Elements ermöglichten die Umsetzung, sowohl riesig groß als auch winzig klein. Die Architekturzeichnung war quasi der Computer des 13. Jahrhunderts.

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Die Vorlage ermöglichte auch die Produktion in Serie. Wenn der Baumeister für einen Bauabschnitt bestimmte Steine benötigte, konnten diese während der Baupause im Winter gefertigt werden. Sobald die Arbeiten im Frühling wieder begannen, konnte man die fertigen Elemente direkt verwenden. Die Bauhütte war also das ganze Jahr im Dauerbetrieb. Das war revolutionär.

Doch eine Bauhütte im Dauerbetrieb bedeutete auch dauerhafte Kosten. Milo war ein außerordentlich wohlhabender Kirchenfürst. Trotzdem hatte sich der Bischof schon fünf Jahre nach Baubeginn hoch verschuldet. Selbst das Vermögen seiner Familie hatte er verbraucht. 1232 revoltierten die Bürger seiner Stadt – vor allem die Geldwechsler. Daran entzündete sich ein politischer Konflikt zwischen Milo und dem König. Dieser zog die weltlichen Geldmittel des Bischofs ein. Milo war bankrott und ein Weiterbau der Kathedrale unmöglich.

Ein Gotteshaus aus Licht

Erst Jahre nach Bischof Milos Tod entspannte sich die Beziehung zu Paris wieder. Milos Nachfolger – ebenso wohlhabende Adlige – konnten den Bau wieder finanzieren. Doch mittlerweile war so viel Zeit verstrichen, dass eine andere Strömung der Gotik trés à la mode war: der Rayonnant. Das bedeutet 'strahlend' und der Name war Programm. Ideal dieses Stils waren großflächige Spitzbogenfenster und Fensterrosetten, die den Kirchenraum mit Licht fluteten.

Für die großen Glasflächen mussten die Wände noch schmaler gebaut werden. Damit sie trotzdem die Gewölbe und das Dach trugen, setzte man außen weitere Strebepfeiler an die Mauern. Sie sollten das auf den Wänden lastende Gewicht abfangen. Doch man wollte nicht nur große Fenster, sondern auch noch das höchste Gewölbe Frankreichs errichten. Das legte zusätzliches Gewicht auf die Säulen, Strebepfeiler und Fundamente. Zu viel Gewicht.

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Niemand sah die fallenden Steine und aufsteigenden Staubwolken. 1284 stürzte das Gewölbe des Chores nach Einbruch der Dunkelheit ein. Doch die Menschen wurden vom gewaltigen Getöse der brechenden Pfeiler und berstenden Fenster aus den Betten gerissen. Der Wiederaufbau zog sich über Jahrzehnte hin, es wurden zusätzliche Säulen in den Chor eingesetzt, um das Gewicht zu halten.

Mittlerweile war der Kirchenraum der Kathedrale von Amiens nach Rekordbauzeit von sechzig Jahren fertiggestellt worden. Ihr Chor erreichte eine Höhe von 42 Metern. In Beauvais wurde alles daran gesetzt, die Rivalin Amiens auszustechen. Deshalb wurde der Chor der Kathedrale nicht einfach nur wiederaufgebaut. Man baute höher und höher. 47 Meter, niemals wieder erreichte ein Gewölbe solche Höhen.

Der Chor war wiederhergestellt, jetzt hätte es an den Weiterbau des Kirchenschiffs gehen können. Doch der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich tobte. Es ging um die von Philipp II. eroberte Normandie. Beauvais war wieder Bollwerk gegen die Engländer. Ab 1347 kam der Kirchenbau aus Geldmangel zum Erliegen.

Das höchste Gebäude der Christenheit

Anfang des 16. Jahrhunderts wurden die Bischöfe vom König eingesetzt und besaßen meist mehrere Bistümer. So kam dem Domkapitel größere Bedeutung zu. Und die Kirchenherren wollten ihr neugewonnenes Prestige ausdrücken. So wurden nach 150 Jahren in der Bauhütte wieder Steine bearbeitet. Das Querhaus wurde im April 1500 begonnen Doch anstatt nach dessen Fertigstellung endlich das Langhaus und eine prächtige Westfassade zu bauen, hatten die Domherren anderes im Sinn. Ein Vierungsturm sollte gebaut werden. Welchen Anspruch das Kapitel daran stellte, sieht man in den historischen Quellen. Sie sprachen gar nicht von Turm, sondern maßen sich gleich an einem ganz anderen Vorbild: Sie gaben den Auftrag für eine "Pyramide".

Doch war das überhaupt machbar? Man hatte den ersten Einsturz noch gut in Erinnerung. Die Handwerksmeister hatten Bedenken. Deshalb beauftragte das Kapitel die Steinmetze und die Zimmerleute, jeweils einen Plan für einen Vierungsturm aus Stein bzw. aus Holz vorzulegen. Am Ende stand ein Kompromiss: die unteren Stockwerke des Turms wurden gemauert, der spitze Turmhelm war aus Holz. Das Gewölbe über der Vierung wurde teilweise aufgebrochen, damit die Fenster des Turmes Licht in die Mitte der Kirche einlassen konnten.

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Als man 1569 das eiserne Kreuz auf die Spitze des Turmes setzte, maß die Kathedrale 154 Meter. Sie war so hoch wie die Große Pyramide von Gizeh, ein christliches Weltwunder. Man habe vom Turm aus Notre-Dame im 60 Kilometer entfernten Paris sehen können. Nun wollte sich das Kapitel dem Weiterbau des Langhauses widmen. Doch der Turm bereitete Probleme. Starke Winde, die vom Ärmelkanal in die Senke von Beauvais wehen, gefährdeten die Stabilität. Die Baumeister errichteten zusätzliche Stützen und Strebepfeiler.

1573 feierte Beauvais Christi Himmelfahrt. Die Prozession war gerade aus dem Südportal der Kirche ausgezogen, als mehrere Strebepfeiler des Turmes brachen. Das Gewölbe allein konnte das Gewicht nicht halten. Unter ohrenbetäubendem Krachen stürzte der Turm ein. Die hölzerne Spitze knickte im Fallen zur Seite weg und schlug auf das Dach des Chores. Zwei Menschen wurden unter den Trümmern dieses gotischen Turmbaus zu Babel begraben.

Der absolute Höhepunkt der Gotik

Die Reparaturarbeiten verschlangen das für den Bau des Langhauses gedachte Geld. Die Westwand der Kirche wurde provisorisch zugemauert. Dieses Provisorium besteht noch heute. Die Bauarbeiten wurden nie wieder aufgenommen. Seit Baubeginn waren fast 350 Jahre verstrichen. Längst hatte sich der Stil der Renaissance aus Italien durchgesetzt. Die Gotik erschien den Zeitgenossen als altmodisch. So vermittelt Beauvais heute noch, wie die Kathedralen in Chartres, Freiburg, Straßburg und Köln jahrzehntelang ausgesehen haben.

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Geht man am Südportal der Kirche vorbei nach Westen, brechen die aufstrebenden Mauern und gotischen Fialen plötzlich ab und man steht vor dem Basse-Œuvre, dem Rest des frühmittelalterlichen Vorgängerbaus. Man hatte nur Teile der alten Kirche abgerissen, um vor der Weihe des gotischen Chores dort die Messe feiern zu können. Während die Architektur der Gotik den Blick des Betrachters zum Himmel reißt, wirkt der – für frühmittelalterliche Verhältnisse große – Vorgängerbau daneben zwergenhaft klein.

Bis heute hat das Gebäude statische Probleme. Deshalb wurden im Zuge der letzten größeren Sicherungsmaßnahme Anfang der 2000er gigantische Holz- und Stahlkonstruktionen im Inneren der Kathedrale eingebaut. Sie sollen verhindern, dass die Mauern nach innen einknicken. Doch wie fast alle Kathedralen Frankreichs leidet auch Beauvais unter einem massiven Restaurierungsstau. Für den Wiederaufbau von Notre-Dame sicherte der französische Präsident Soforthilfe zu. Die anderen Bauten, die sich in Frankreich im Besitz des Staates befinden, warten seit Jahren auf grundlegende Erhaltungsmaßnahmen.

Von Cornelius Stiegemann