Kolumne: Mein Religionsunterricht

Es geht weder um den Fortbestand der Kirche noch des Reli-Unterrichts

Veröffentlicht am 21.06.2019 um 14:05 Uhr – Lesedauer: 

Wentorf ‐ Ob Wissen um kirchliche Traditionen oder die Kenntnis der Grundgebete – alles Vergangenheit! Doch was bedeutet das für den Religionsunterricht? Lehrer Heinz Waldorf jedenfalls sorgt sich deshalb nicht. Es gehe letztlich nicht um den Fortbestand der Institution Kirche, sondern um etwas anderes.

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Die letzte Kolumne meiner Kollegin Elisabeth Maximini-Kirchen, ihre Erfahrungen mit den Schülern und die Unterbrechung durch die Studie zur Mitgliederentwicklung der deutschen Kirchen, haben mich nachdenklich gestimmt. Ich habe mich gefreut über ihre Erlebnisse mit den Portfolios und das Vertrauen, welches sie in ihre Leute setzt, die doch alles andere als orientierungslos sind. Suchende, die Probleme mit einer Glaubenspraxis haben, die ihnen nichts sagt, ja! Wer eigentlich ist angesichts der Ungeheuerlichkeiten, welche die Bibel uns präsentiert, der Weite der Horizonte, der schier unglaublichen Verheißungen von Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit und Leben in Fülle nicht Suchende und Suchender! Zumal, wenn sie/er sich die real existierende Welt anschaut! Die große Stärke der Jugendlichen, von denen Frau Maximini-Kirchen erzählt, scheint mir ihre Ehrlichkeit zu sein. Unsere Kinder mögen nicht mehr alles glauben, mögen auch in ihrer großen Mehrzahl nicht mehr zum Gottesdienst kommen. Aber sie sind in der Regel sozial und freundlich, sie kommen mit Fremden und seltsamen Menschen gut aus und würden – wie ich doch stark hoffe – nicht mehr gegen irgendeinen Nachbarn in den Krieg ziehen, wie das üblich war als die Welt der Werte und Normen angeblich noch in Ordnung war.

Ehrlich gesagt habe ich in all meinen Schuljahren keinen Schüler erlebt, der nicht auf die eine oder andere Weise an etwas geglaubt hätte, für das zu glauben sich lohnt. Hinter den Beschwerden über die fragwürdige Beurteilung einer Leistung steht in der Regel der Ruf nach Gerechtigkeit – und mit ihm verbunden selbstverständlich eine Vorstellung von dem, was gerecht sei und was eben nicht. Damit blicken die Schüler doch bereits über den Horizont hinaus und finden sich nicht einfach mit dem Vorfindlichen ab. Beste Voraussetzungen also für jede Form von Exodus und Auszug in freieres Gelände, würde ich sagen. Was fundamental anderes haben die Israeliten damals in Ägypten getan? Und was ist daraus entstanden! Hinter jeder schulischen Auseinandersetzung steht eine Idee von dem, was in Ordnung wäre und was nicht. Das Einklagen von Ordnung ist bereits ein Akt der Selbsttranszendenz, jene Voraussetzung für weiter- und tiefergehenden Glauben an eine transzendente Wirklichkeit. Die Empfänger funktionieren – was wir ihnen senden, ist das eigentlich Interessante und die Frage, die in den Mittelpunkt gehört. Wie sähen denn Gottesdienste aus, zu denen viele gern kommen würden, zum Beispiel?

Mich beruhigen diese Befunde. Schließlich geht es nicht um den Fortbestand der (Institution) Kirche und überkommener und weitgehend verstaubter Strukturen; es geht auch nicht in erster Linie um den Fortbestand des Religionsunterrichts in einem Fächerkanon, in dem so ziemlich alle anderen Fächer – so scheint es mir – als bedeutungsvoller erscheinen. Sondern es geht um die Menschen. Und um die ist mir nicht bange.

Statistik zu Kirchenmitgliederzahl
Bild: ©FZG/Albert-Ludwig-Universität Freiburg

Natürlich sind Unterrichtssituationen immer Momente einer mehr oder weniger lästigen Zwangsveranstaltung. Wer von uns würde nicht morgens öfter mal gern lieber ausschlafen als sich der Pflicht zu stellen?! Hinter der Schülerfassade – man könnte auch von "Persona" im Sinn von "Maske" und Rollenverhalten sprechen – nehme ich viel Nachdenklichkeit wahr. Es kommt eine Menge an, das spürbar wird, wenn ich sehr aufmerksam bin. Dann kann ich etwas in den Gesichtern lesen oder in einem nachdenklichen Kopfnicken, das mich an das leise Säuseln erinnert, das am Horeb dem der Begegnung mit Gott vorausgeht (1 Kön 19,1-18). Es kommt eine Menge an, auch wenn sich das nicht immer und in manchen Kursen leider nur in bescheidenen Unterrichtsleistungen niederschlägt.

Vielleicht liegt hier bereits das Problem, in der Leistung. Ich frage mich seit langen Jahren, was gewichtiger ist, das abhakbare Wissen und damit auch der Eindruck, hinter ein Problem, eine Frage ein Ausrufungszeichen machen zu können und eine Lösung gefunden zu haben. Oder ist das Offenhalten der Frage, die Einsicht, dass viele Fragen keine befriedigende Antwort, sondern höchstens Lösungsansätze zulassen, dass Meinungen und Positionen sogar oftmals unversöhnlich nebeneinanderstehen und man dies aushalten lernen muss, das eigentlich Wichtige? Nachdem die Israeliten im Exodus die Freiheit geschmeckt hatten, ging es bekanntlich tief in die Wüste hinein.

Wenn fromme Abwehrhaltungen nach Ignoranz riechen

Ist Orientierung für die Kinder und Jugendlichen wirklich gleichbedeutend mit Antworten geben? Oder dient ihnen eher, dass ein Erwachsener bezeugt, inmitten der Unübersichtlichkeit dennoch einen Weg gefunden zu haben und immer von Neuem zu finden? Es ist weit mehr als die von Habermas (Glückwunsch zum 90.!) seinerzeit ausgerufene "Neue Unübersichtlichkeit", es scheint mir eine grundsätzliche Unübersichtlichkeit zu sein, die Bestandteil der conditio humana ist.

Was ist angesagt, wenn die Schüler den Mut fassen, sich ihre Weltbilder und ihr Weltverständnis nicht mehr von einer Autorität vorschreiben zu lassen? Was ist angesagt, wenn sie zeigen, dass sie doch ein wenig aufgeklärt sind und ihren Verstand zu gebrauchen wissen? Neue Autoritäten? Neue Festlegungen auf Weltbilder? Pluralismus ist Pluralismus und keine Autorität wird die Entwicklung zurückdrehen können. Einheitliche Weltbilder, festes Stehen im Glauben in Massen, Volkskirche, Wissen um die Traditionen und selbst die Kenntnis der Grundgebete aus einer religiösen Sozialisation heraus – alles Vergangenheit! Und wer sich die Welt anschaut, wird wohl mit gutem Recht auch (Protest-)Atheist werden können, weil der Schmerz der Geschöpfe eben doch, wie Georg Büchner (Danton's Tod III,1) es formulierte, "der Fels des Atheismus" ist, gegen den manche frommen Abwehrhaltungen mir schon sehr nach Ignoranz riechen. Welchen Sinn sollte es haben zu glauben, Gott habe den Menschen Verstand gegeben, wenn man ihnen dann hintenherum wieder die Fähigkeit den Zustand der Welt wahrzunehmen und zu beurteilen abspricht, zumal dann, wenn das Ergebnis nicht genehm ist. Im Klartext: Ich fordere von meinen Schülern und von mir ebenfalls den Mut zu fassen, Sinnlosigkeit als Sinnlosigkeit zu bezeichnen. Ich bringe es nicht übers Herz Leid zu erklären, damit ich meinen Glauben retten kann. Ich erinnere mich an den großen Galilei, der für sich in Anspruch nahm, in seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen richtig zu liegen und von den Theologen zu erwarten, ihre Bibelauslegung so zu gestalten, dass sie nicht in Widerspruch zu eben diesen Erkenntnissen steht.

Auf dieser Grundlage, auf einer ehrlichen Welt-Sicht, muss der Glaube beruhen. Aber davon soll eine andere Kolumne erzählen.

Von Heinz Waldorf

Der Autor

Heinz Waldorf ist Lehrer am Gymnasium Wentorf bei Hamburg.

Linktipp: Kolumne "Mein Religionsunterricht"

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