Standpunkt

Opfer von Missbrauch müssen ihren Tätern nicht vergeben!

Veröffentlicht am 10.07.2019 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Die Diskussion um die umstrittene Missbrauchspredigt eines Münsteraner Pfarrers hat die Frage aufgeworfen, wie weit Vergebung reichen muss. Für Pater Klaus Mertes ist jedoch klar, dass es für Opfer keine Pflicht zur Vergebung gibt.

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Die Auseinandersetzung um die Predigt des Münsteraner Pfarrers Zurkuhlen berührt einen der tiefsten, verletzlichsten und zugleich zentralsten Punkte des Evangeliums. Deswegen ist es gut, dass darüber jetzt gesprochen wird. Dass es dazu kommt, ist eine Frucht der Aufarbeitungsprozesse der letzten Jahre. Die Auseinandersetzung zeigt, wie tief dieser Prozess reicht – reichen darf und reichen muss. Dazu gehört eben auch, neu darüber nachzudenken, wie wir in der Kirche über Vergebung sprechen.

Meine Kurzformel dazu lautet: Es gibt kein 11. Gebot "Du (Opfer) sollst (deinem Peiniger/deiner Peinigerin) vergeben." Die Vaterunser-Bitte "wie auch wir vergeben unseren Schuldigern" ist vor dem Hintergrund des Gleichnisses vom unbarmherzigen Gläubiger (Mt 18,25-35) zu verstehen, richtet sich also gerade nicht an Opfer. Gleichfalls ist die alte, antijudaistische These schon längst wiederlegt, dass im Alten Testament Gott nicht so barmherzig sei wie im Neuen Testament. Ein Blick in das Magnifikat (Lk 1,46-56) genügt zur Illustration des Gegenteils.

Ein Opfer darf ein Leben lang seinen Täter nicht mehr sehen wollen. Vielleicht ist gerade dies sogar ein Aspekt von "vergeben", sofern "vergeben" ein "weggeben" ist, nach dem Motto: "Ich überlasse ihn/sie dem Gericht Gottes." Sollte ich "meinem" Täter dann doch auf Grund des göttlichen Handelns im Himmel wieder begegnen, dann glaube ich, dass Gott dafür verantwortlich ist, wie wir einander begegnen werden und können. Wie Gott das macht – das überlasse ich Gott. Ich selbst muss es nicht leisten. So in etwa denke ich jedenfalls, wenn ich an diejenigen Menschen in meinem Leben denke, die ich nie mehr wiedersehen möchte.

Die Moralisierung von Vergebung als quasi 11. Gebot ist anti-theologisch. Wenn wir in der Eucharistie die Versöhnung feiern, die Gott stiftet, dann feiern wir eben das Wunder, das Gott wirkt. Und wenn wir das Wunder der Versöhnung mit dem moralischen Imperativ an uns selbst oder gar an andere verwechseln, "unseren" Tätern zu vergeben, dann sind wir schon wieder bei uns und nicht bei Gott. Moralische Imperative kann man nicht feiern, Gottes Versöhnungswillen und -handeln aber umso mehr.

Von Pater Klaus Mertes

Der Autor

Der Jesuit Klaus Mertes ist Direktor des katholischen Kolleg St. Blasien im Schwarzwald.

Hinweis

Der Standpunkt spiegelt nicht unbedingt die Meinung der Redaktion von katholisch.de wider.