Das Pfadfinder-Geheimnis
In den vergangenen Jahren wurden vielerorts die Schultage länger und die Schulzeit kürzer. Da zusätzlich der Wehr- und Zivildienst wegfiel, sind mittlerweile viele Jugendliche nach der Schule schnell in andere Städte verschwunden, um dort zu studieren oder eine Ausbildung zu machen. Vielen Jugendorganisationen setzt das zu. Sie beklagen einen geringeren Zuspruch als früher. Wer trotzdem zum Teil steigende Mitgliederzahlen zu verzeichnen hat, sind die Pfadfinder.
Für Annkathrin Meyer ist der Grund dafür ganz klar. "Die Pfadfinder sind einer der wenigen Bereiche, wo Kinder nicht in einer Leistungssituation sind", sagt die Aachener Diözesanvorsitzende der katholischen Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg (DPSG). Denn selbst in der Freizeit sind Kinder oft im Wettkampf: Im Sportverein soll die eigenen Mannschaft gewinnen, im Musikverein jeder so gut wie möglich spielen. Diese Leistungsmomente treten bei den Pfadfindern zurück. "Wir nehmen die Kinder, wie sie sind", beschreibt Meyer das Erfolgskonzept. Jedes Kind könne seine eigenen Talente entdecken und entwickeln, dadurch fühle es sich stark.
Dieses Grundprinzip spielt bei den zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Robert Baden-Powell in Großbritannien gegründeten Pfadfindern seit den Anfangstagen eine wichtige Rolle: Der englische General legte Wert auf "Learning by Doing", also das Erlernen durch eigenes Handeln. Die Kinder und Jugendlichen sollten selbst Erfahrungen machen, nicht nur andere nachahmen. Ebenso behandelt er in seinem letztlich unter dem Titel "Scouting for Boys" 1908 erschienen Grundlagenbuch für die Pfadfinder auch Aspekte der Persönlichkeitsbildung wie Bürgerpflichten, Nächstenliebe und Zusammenhalt. Diese sollten die Kinder erst von anderen erleben und dann selbst leben. Bis heute arbeiten Pfadfinder weltweit mit Baden-Powells Buch, das unter anderem zum Vorlesen am Lagerfeuer geschrieben wurde.
In Deutschland, wo es seit 1910 Pfadfinder gibt, mischte sich die Bewegung mit anderen zeitgenössischen Jugendströmungen wie etwa den Wandervögeln oder der Bündischen Jugend. Deshalb gibt es hierzulande neben weltweiten Pfadfinderkennzeichen wie dem Gruß "Gut Pfad" oder der "Kluft" genannten einheitlichen Kleidung auch eine lange Tradition des gemeinsamen Singens und Zeltebauens. Allein die DPSG hat als größter deutscher Pfadfinderverband heute etwa 95.000 Mitglieder, insgesamt gibt es mehr als eine Viertelmillion Menschen in Deutschland, die sich mit "Gut Pfad" begrüßen.
Die angestrebten Erfahrungen und Grundwerte vermitteln die Pfadfinder bis heute unter anderem in wöchentlichen Gruppenstunden. In denen kommen die Kinder und Jugendlichen nach Altersklassen unterteilt zusammen: Ab vier Jahren heißen sie "Biber", ab sechs "Wölflinge", ab zehn "Jungpfadfinderinnen und Jungpfadfinder", ab 12 "Pfadfinderinnen und Pfadfinder" und ab 15 "Roverinnen und Rover". In den Gruppenstunden wird dann zusammen gespielt, gekocht oder es geht raus in die Natur. Daneben gibt es regelmäßig die bekannten Zeltlager inklusive Lagerfeuer.
Traditionelle Formate für aktuelle Probleme
Die Pfadfinder reagieren so auch auf die Problemstellungen junger Menschen im 21. Jahrhundert: Denn im Familienalltag beispielsweise kochen oder einkaufen zu lernen, ist in Zeiten von Schlüsselkindern und flexiblen Arbeitszeiten keine Selbstverständlichkeit mehr.
Die Pfadfinder wollen die Kinder fit für ein selbstständiges Leben machen. "Dadurch soll auch Selbstbewusstsein entstehen. Denn man lernt, mit Problemen umzugehen und Lösungsstrategien zu entwickeln, ohne zu verzagen", so Meyer. Auf diese Weise soll den Kindern klar werden: Es ist in Ordnung, auch mal zu verlieren. Der allgegenwärtige Wettbewerb des durchkapitalisierten Alltags soll nicht unwidersprochen bleiben.
Vor allem bei den Zeltlagern kommen die Kinder mit der Natur in Berührung, einem Grundanliegen der Pfadfinder. Hier geht es dann – ganz klassisch – um Dinge wie Holz hacken oder Feuer machen geht. Dabei spielen auch Themen wie Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbewusstsein eine Rolle. "Nur, weil ein Mädchen ein Mädchen ist, heißt das nicht, dass sie kein Holz hacken kann", sagt Annkathrin Meyer. Auch scheinbar unverrückbare Geschlechterbilder werden also hinterfragt. Zudem stehen Werte wie Ehrlichkeit und Nächstenliebe auf der Tagesordnung – auf deren Einhaltung mit Nachdruck geachtet wird.
Zwischen Tradition und Neuerfindung
So konservativ manches dieser Konzepte klingen mag – von gestern wollen die Pfadfinder nicht sein und haben sich von ihren Gründungsstatuten in so mancher Hinsicht emanzipiert. Gründer Baden-Powell war Soldat – was man der von ihm gegründeten Organisation in ihren Anfangsjahren auch anmerkte: Die Pfadfinder waren recht militärisch verfasst, man schwor dem König die Treue und ordnete die eigenen Interessen denen der Gruppe unter. Das ist heute Geschichte: Den Kasernenton sucht man vergeblich, der König ist aus dem Pfadfinderversprechen gestrichen worden und das Individuum und dessen Förderung spielen neben der Zusammengehörigkeit als Gruppe heute eine gleichberechtigte Rolle.
Geblieben ist bis heute aber die aus der Anfangszeit stammende Orientierung an christlichen Werten und die Verankerung im Glauben – auch in Zeiten zunehmender Säkularisierung: Bei Freizeitaktivitäten gibt es sogenannte Morgen- und Abendrunden, in denen der Tag mit einem spirituellen Impuls beginnt und endet. Auch am Lagerfeuer werden spirituelle Texte gelesen und Lieder gesungen – ein niedrigschwelliger, intuitiver Zugang zu Religion, findet Meyer. Außerdem gibt es jedes Mal einen Gottesdienst, zu dem auch weniger religiös geprägte Pfadfinder kommen. Denn obwohl die DPSG ein katholischer Verband ist, ist die religiöse Vielfalt groß. Auch Kinder anderer Konfessionen und Religionen dürfen Mitglied werden – Muslime, Juden und Atheisten bei den katholischen Pfadfindern sind also Realität. Laut Meyer habe aber noch nie ein Kind gesagt: "Ich will da nicht mitmachen".
Zur religiösen Verortung gehört auch das Engagement der Pfadfinder in der jeweiligen Pfarrei. Man helfe sich gegenseitig: "Wir dürfen Räume der Gemeinde benutzen und helfen dafür zum Beispiel beim Pfarrfest Bänke tragen, teilen Essen beim Adventsbasar aus oder sind Platzanweiser in der Christmette", sagt Meyer. Sie gibt aber zu, dass es sehr von Ort und Personen abhängt, wie die Beziehung zwischen der Gemeinde und den eigenständigen Pfadfindern aussieht: Manchmal kommt es zu Konkurrenzdenken – beispielsweise zwischen Pfadfindern und Messdienern. Deshalb reicht die Bandbreite von der engen Verzahnung zwischen Gemeinde und Pfadfindern bis zur gegenseitigen Nichtbeachtung.
Der Zukunft blickt Annkathrin Meyer zuversichtlich entgegen: "Die Grundwerte werden sich in den nächsten 200-300 Jahren nicht grundlegend verändern", glaubt sie. Menschlichkeit und Begegnungsfähigkeit ständen dann noch immer hoch im Kurs. Auch die Pfadfinder werde es dann noch geben. Einen dieser Grundsätze formulierte Pfadfinder-Gründer Baden-Powell kurz vor seinem Tod 1941. Er schrieb in einem Brief an die Pfadfinder: "Versucht, die Welt ein bisschen besser zurückzulassen, als ihr sie vorgefunden habt." Dieser Wunsch wird die Pfadfinder auch in die Zukunft begleiten.