Ein Schafdorf in Umbrien
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Im August ist immer was los in Monte San Vito. Drei gemeldete Einwohner hat das umbrische Bergdorf, aber rund um Ferragosto, 15. August, kommen viele hier geborene Alte mit ihren Familien zurück. 13 enge Kurven hinauf. In 912 Metern Seehöhe kann man es selbst dann aushalten, wenn Terni oder Rom sich anfühlen wie Stadt gewordene Tauchsieder.
Viel zu tun haben sie nicht in Monte San Vito, die sommerlichen Zugvögel. Selbst eine Bar, erste Anlaufstelle jedes italienischen Dorfes, wird nicht aufgeboten. Man kocht zu Hause, isst, sieht fern, wäscht zwei T-Shirts (einige Alte tun das in der Viehtränke), man hält ein Schwätzchen, besucht seine Toten am Friedhof, schaut hinab ins Tal und lässt sich in der Brise auslüften. Auf der Bocciabahn dösen die schweren Kugeln vor sich hin. Die Vierzehnjährigen hocken auf den Rückenlehnen der Bänkchen und tippen in ihre Hände, latschen auch einmal zu einer Partie Tischfußball. Wenn sie damit durch sind, langweilen sie sich ausgiebig. Was Vierzehnjährige nicht ahnen: Eines Tages werden sie dieses Kaff genau dafür lieben.
Im Vergleich ist Monte San Vito nichts Besonderes, ein Schäferdorf aus dem späten Mittelalter wie viele in der Gegend. Als Fremde darf ich sagen, es ist hinreißend. Nicht nur der Blick ins Dorf hinein, sondern auch der vom Dorf hinab, dutzende Kilometer längs durch das Tal dort unten, das ein forellenreicher Fluss namens Nera durchschlängelt. Grün sind die Bergkuppen auf Augenhöhe. Als weißes Ausrufezeichen hinten in der Landschaft kann man den Marmore-Wasserfall ausmachen, wenn man weiß, dass er es ist. Der höchste künstliche Wasserfall der Welt ist alt, die Römer haben ihn deutlich vor unserer Zeitrechnung angelegt. Die Marmore werden zu bestimmten Tageszeiten angeknipst. Nur dann gibt es in Monte San Vito das weiße Ausrufezeichen hinten in der Landschaft zu erspähen. Schlank und energisch oben, breite Kaskaden unten, ein geradezu szenisch arrangierter Wasserfall, vielbesungen und gemalt von den Generationen der Grand Tour. Niemand dieser gebildeten Reisenden aus dem Norden ist wohl jemals hinaufgestiegen nach Monte San Vito. Wozu auch?
Die Armut der Familien, die das Dorf über die Jahrhunderte bewohnten, ist ihren winkligen Behausungen noch heute anzusehen. Grobes, dickes Mauerwerk aus Stein und Zement, winzige Fenster, höhlenartige Räume. Gärten? Keine. Haus lehnt an Haus. Das herrschaftliche Spoleto mit seiner Burg und den Adelspalästen ist weit weg, im Nachbartal. 20 Minuten sind es heute mit dem Auto durch den Tunnel. Bis in die 1950er Jahre hinein war es eine Tagesreise.
Dann kam der Fortschritt nach Monte San Vito. 13 enge Kurven hinauf: Asphalt. Endlich war das Schäferdorf nicht mehr vom Tal abgeschnitten. Doch was für mehr Austausch zwischen oben und unten sorgen sollte, ging nur in eine Richtung. Bergab. Wie das Wasser der Marmore, ins Zugängliche. 300 Bewohner soll das Dorf noch 1950 gehabt haben. Heute drei. (Und unsere Nachbarin Signora Maria habe ich seit letzten Herbst nicht mehr gesehen. Nur die Frau, die sie pflegt.)
300 Bewohner brauchten und bauten zwei Kirchen. Eine davon ist geschmückt mit diesem hübschen, fröhlichen Marienfresko, das nach 16. Jahrhundert aussieht. Ein gutgelauntes Jesuskind verteilt Rosenkränze, rundherum Szenen aus seinem späteren Leben bis zum leeren Grab der Auferstehung. Das Messbuch liegt einladend offen auf dem Altar, gefeiert wurde diese Messe schon Mitte Juli. Der legere Pfarrer, der vor ein paar Jahren den alten Afrika-Missionar Don Feliciano ablöste, stammt aus Polen und residiert unten in Sant´Anatolia di Narco. Schafdörfer wie dieses kann der Pfarrer nur ein paarmal im Jahr ansteuern. Meist zu Beerdigungen. Die Zugvögel wissen, wozu der Friedhof hinter dem heiteren Marienfresko so viele freie Urnennischen hat.