Der Berg Tabor – Ort der Verklärung?
Inmitten der Jesreel-Ebene im Norden Israels erhebt sich ein freistehender Berg, der schon von weitem aufgrund seines markanten Äußeren auffällt. Dieser Berg, der von außen beinahe einem halben Ei gleicht, wird von vielen Heilig-Land-Pilgern als jener Berg angesehen, auf dem sich die Verklärung Jesu ereignet haben soll. Dabei spielt der Tabor schon im Alten Testament eine wichtige Rolle und war weit vor der Zeit Jesu schon als wichtiger Kultort bekannt. Eine Reise in seine Geschichte offenbart seine Bedeutung und zeigt, wie stark sich die Entwicklungslinien bis in die christliche Zeit hinein fortschreiben lassen.
Der Name Tabor, mit dem der Berg seit biblischer Zeit angesprochen wird, scheint wohl phönizischen Ursprungs zu sein. Eine genaue etymologische Bestimmung des Ortsnamens ist nicht durchführbar, vielleicht lässt sich das phönizische "Tabor" aber mit "Orakelstätte" übersetzen. Interessant ist jedenfalls, dass sein hellenistischer Name "Itabyrion horos Tabor", der bei Flavius Josephus und in der Septuaginta auftaucht, im Gottesnamen des "Zeus Atabyrios" aufgegriffen wurde. Ob es hier jedoch Verbindungslinien gibt, bleibt unklar. Als unwahrscheinlich darf man aber wohl annehmen, dass der Berg nach dem griechischen Gott benannt wurde. Der Berg, der eine Höhe von rund 588 Metern besitzt, lässt sich gut von der ebenen Umgebung aus wahrnehmen. Von seinem Hochplateau kann man die weite Landschaft der Jesreel-Ebene überblicken, vom Berg Hermon im Norden über das Karmel-Gebirge bis hin zu den Bergen von Gilboa. In früheren Zeiten war der gesamte Berg von einem Eichenwald bedeckt, der jedoch im Laufe der Jahrhunderte zumindest teilweise abgeholzt wurde.
"Sie werden Völker zum Berge rufen, dort werden sie gültige Opfer schlachten"
Biblisch ist der Berg schon im Alten Testament bezeugt: Im Buch Josua wird der Tabor als Grenzberg von Sebulon, Naftali und Issachar erwähnt (19,12.22.34); dabei ist unklar, ob in Jos 19,22 nicht vielleicht eher eine Ortschaft mit dem Namen Tabor, als der Berg selbst gemeint ist. Im Richterbuch wird der Berg Tabor, vielleicht aufgrund seiner strategisch günstigen Lage, zum Versammlungsort der Truppen Baraks. Die Richterin Debora gibt hierbei den Befehl, "zehntausend Mann von den Naftalitern und den Sebulonitern" zu sammeln, um mit ihnen gegen die Kanaanäer unter Sisera in den Kampf zu ziehen (Ri 4,6.12-14). Beim Propheten Hosea (5,1) wird der Tabor möglicherweise als Ort einer Kultstätte für den Gott Baal bezeichnet. Zumindest könnte man den Vers gut mit Dtn 33,19 zusammenlesen, wo es heißt: "Sie werden Völker zum Berge rufen, dort werden sie gültige Opfer schlachten." Ob hierbei aber der Tabor gemeint ist und ob er mit einer Opferstätte für Baal in Verbindung gebracht wird, ist in beiden Fällen höchst fraglich. Ausdrücklich genannt wird beides jedenfalls nicht, deshalb bleibt es Spekulation. Der 89. Psalm nennt Tabor und Hermon in einem Atemzug; beide jubeln über die Herrlichkeit Gottes (V. 13). Und der Prophet Jeremia vergleicht den Herrn der Heerscharen mit dem Tabor und dem Karmel (46,18).
Auf der Suche nach dem biblischen Ort
Während der Berg Tabor alttestamentlich relativ gut bezeugt ist, wird er im Neuen Testament nicht erwähnt. Dies ist besonders deshalb auffällig, da der Berg Tabor seit byzantinischer Zeit als Ort der Verklärung Jesu angesehen wird. Wie ist dies zu erklären? Ein Blick in die synoptischen Evangelien, welche die Episode der Verklärung Jesu überliefern, zeigt eine gravierende Leerstelle: Bei Lukas wird erwähnt, dass Jesus zusammen mit Petrus, Johannes und Jakobus auf einen Berg stieg; dieser Berg wird bei Matthäus und Markus zusätzlich als "hoch" qualifiziert. Weiter wird über den Ort der Verklärung nichts ausgesagt. Weder eine genaue Lokalisierung noch eine exakte Identifizierung des Tabor als Berg der Verklärung Jesu sind daher eigentlich möglich. Schlicht und ergreifend muss man konstatieren: Das neutestamentliche Zeugnis verschweigt, wo sich die Verklärung Jesu zugetragen hat.
Erst im Jahr 348 beschäftigt sich der Jerusalemer Bischof Kyrill mit dieser Frage und kommt in einer seiner Katechesen zur Einsicht, dass wohl der Tabor der Ort der Verklärung gewesen sei. Auch Origenes hat diese Identifikation schon vorgeschlagen; später wird sie auch von Hieronymus aufgenommen. Doch diese Verortung war nicht unumstritten, meint doch schon Eusebius, der Berg der Verklärung Jesu sei in Wirklichkeit der Hermon gewesen. Schlussendlich bleibt wohl nur festzuhalten, dass es wohl für beide Alternativen Argumente gibt. Eine exakte Lokalisierung ist aufgrund des mangelnden neutestamentlichen Zeugnisses wohl nicht möglich. Dennoch hat sich bereits in frühchristlicher Zeit das Gedächtnis der Verklärung auf dem Tabor etabliert und damit einen Ort bestimmt, an dem seit Jahrhunderten an dieses Ereignis im Leben Jesu erinnert wird.
Nimmt man die Geschichte des Tabor insgesamt in den Blick, so war der Berg in früherer Zeit besonders als strategischer Ort für die Stationierung von Truppen begehrt. Sowohl die im Richterbuch geschilderte Debora-Schlacht, als auch die Eroberung des Tabors unter Antiochus III. im Jahr 218 v. Chr. sind hierfür herausragende Zeugnisse. Um 65 n. Chr. ließ Josephus als Befehlshaber judäischer Truppen in 40 Tagen eine Ringmauer erbauen, mit welcher er das Hochplateau des Berges umfasste. Reste dieser Mauer können auf dem Berg bis heute besichtigt werden. Schon im Jahr 67 n. Chr. wurde die von Josephus errichtete Festung auf Befehl von Vespasian durch Placidus erobert. In byzantinischer Zeit wurden auf dem Tabor in Erinnerung an die Verklärung Jesu eine Kirche und zwei Kapellen errichtet; schon 518 bezeugt eine Synode von Jerusalem einen Bischofs des heiligen Berges Tabor. Die frühchristlichen Heilig-Land-Pilger sprechen schon 570 gar von drei Basiliken sowie einem großen ummauerten Kloster auf dem Tabor. 614 wurden die Kirchen entweder durch ein Erdbeben oder durch den Einfall der Perser zerstört.
In den folgenden Zeiten, auch nach der muslimischen Eroberung 637, scheint sich das kirchliche Leben auf dem Tabor nur langsam erholt zu haben; jedenfalls gibt es in der Folgezeit nur schwankende Angaben zur Anzahl der Kirchen und Heiligtümer auf dem Berg. Erst mit den Kreuzfahrern wurde eine dreischiffige Basilika errichtet, die von einem Benediktinerkloster und einer Pilgerherberge flankiert war. Das christliche Intermezzo währte nur kurz, denn schon 1187, als das Heer der Kreuzfahrer vernichtet geschlagen wurde, eroberte Saladin den Tabor, auf dem Anfang des 13. Jahrhunderts eine muslimische Festung erbaut wurde. Ein Teil dieser Festung – das sogenannte "Tor der Winde" – ist bis heute erhalten geblieben. Doch auch die muslimische Herrschaft über den Tabor währte nur kurz und schon 1218 kehrten die Christen zurück.
Bis heute ein beliebtes Ziel christlicher Pilger
Knappe fünfzig Jahre später, 1263, ließ Sultan Baibars sämtliche christliche Gebäude auf dem Tabor zerstören und baute auf dem Hochplateau seinen Sommerpalast. Auch diese Epoche war nur von kurzer Dauer und so blieb der Berg von 1285 bis 1631 verlassen. Die Gebäude verfielen und ebenso die Erinnerung an die einstige Bedeutung des Bergs für die Christen. Zwar bekamen diese Mitte des 17. Jahrhunderts die Hoheit auf dem Tabor vom drusischen Emir zurück, doch dauerte es bis 1867, bis die orthodoxe Elias-Kirche wiederaufgebaut wurde. Und erst 1924 konnte die Weihe der heutigen Basilika begangen werden, die von den italienischen Architekten Antonio und Julius Barluzzi auf den Fundamenten der byzantinischen Basilika errichtet wurde.
Diese Kirche, die man heute auf dem Tabor besuchen kann, erinnert mit ihrer Architektur an das Evangelium von der Verklärung Jesu: Mit ihren drei Schiffen greift die Kirche die drei Hütten auf, die Petrus erbauen möchte; in den beiden Türmen befinden sich die Mose- und die Elija-Kapelle; zentral im Innern zeigt das Mosaik in der Apsis die Szene der Verklärung. Somit ist der Berg Tabor bis heute ein beliebtes Ziel christlicher Pilger, die auf dem Plateau nicht nur mit der Erinnerung an die Verklärung Jesu, sondern auch mit einem wunderbaren Blick über den Norden des Heiligen Landes belohnt werden.